Manche Menschen prägen unser Leben auf eine Weise, die sich mit Worten kaum erfassen lässt. Sie hinterlassen Spuren in unserem Herzen, in kleinen Gesten, in Erinnerungen, die uns ein Leben lang begleiten. Meine Oma Gisela war genau so ein Mensch. Sie war viel mehr als nur eine Großmutter – sie war die wichtigste Person in meinem Leben.
Ich schreibe diesen Artikel nicht nur, weil ich sie vermisse – sondern weil ich ihr ein Denkmal setzen will. Ich will, dass jeder erfährt, was für ein unglaublicher Mensch sie war. Eine Frau, die aus einer anderen Zeit kam, aber so modern war, wie sie nur konnte. Die mir Liebe, Humor, Geborgenheit und jede Menge versauter Witze beigebracht hat.
Ein Leben zwischen Krieg, Arbeit und Familie
Gisela wurde am 25. August 1939 geboren – eine Zeit, in der die Welt im Chaos versank. Sie wuchs in der DDR auf und machte eine Ausbildung als Näherin, doch im Laufe ihres Lebens arbeitete sie an unzähligen Orten: bei Kondomi, bei der Bahnpost, in einer Zeitungsdruckerei, in einer Näherei für Taschen – und vermutlich noch an vielen anderen Stellen, die mir gar nicht alle bekannt sind.
Auf der Arbeit nannte man sie immer „Krümel“, weil sie so klein war – das hat sie mir oft erzählt. Manche Kollegen nannten sie aber auch „Gilla“. Diesen Spitznamen habe ich später für meine AirPods übernommen – ein kleiner Insider, den nur sie und ich verstanden hätten. Das war nach dem sie gegangen war, um sie immer bei mir tragen zu können.
In der Familie nannten wir sie oft liebevoll „unser Hobbit“. Sie war klein, liebte gutes Essen und hatte es gerne gemütlich – genau wie ein Hobbit aus Mittelerde. Barfuß lief sie allerdings nie herum, was wir ihr manchmal scherzhaft vorhielten. Aber in Sachen Gastfreundschaft und Lebensfreude hätte sie locker in ein Hobbithaus gepasst.
Aber nur, weil sie klein war, hieß das nicht, dass sie sich etwas gefallen ließ.
Das war schon als Kind so: Ein Junge aus ihrem Dorf behauptete, sie seien zusammen – und sie konnte ihn nicht ausstehen. Sie war nicht jemand, der einfach so Dinge hinnahm, also beschloss sie, das klarzustellen. Wie sie es mir erzählte, sagte sie nur: „Den hab ich verwackelt!“ Sprich: Er bekam eine klare, körperliche Erinnerung daran, dass sie nicht sein Mädchen war.
Ihr Diterchen – Die große Liebe ihres Lebens
Eines ihrer größten Glücke im Leben war mein Opa – ihr Diterchen. So hat sie ihn immer genannt, und die beiden waren unzertrennlich. Sie liebte ihn über alles, und er war ihr Fels in der Brandung.
Er starb im Januar 2007, und auch wenn sie es nicht immer gezeigt hat, hat sie ihn nie wirklich losgelassen. Manchmal sprach sie über ihn, und es war, als wäre er noch da – als würde er immer noch irgendwo in der Nähe sitzen und zuhören.
Der Garten, den sie so sehr liebte, war ursprünglich nur eine Wiese – Diterchen hat ihn angelegt. Er hat alle Beete gestaltet, den Gartenteich geschaffen, die Laube gebaut und sogar das eigenständige Extragebäude errichtet. Sein Werk umgab sie jeden Tag, und auch nach seinem Tod blieb der Garten ein Ort voller Erinnerungen.
Nach seinem Tod stellte sie eine Kerze auf den Schrank mit seinen CDs. Darüber, an der Wand, hing ein Foto von ihm. Es war ihr stilles Gedenken an ihn – ein Zeichen dafür, dass er immer noch ein Teil ihres Lebens war.
Der Verlust hat sie tief getroffen, aber sie trug ihn mit der gleichen Stärke, die sie immer ausgemacht hatte.
Der Garten – Ihr kleines Königreich
Meine Oma liebte ihren Garten über alles. Er war nicht nur ein Hobby für sie – er war ihre Welt. Jeden Herrentag war es Tradition, im Garten zu sein.
Meine Onkels machten dabei eine Wanderung durch den Steigerwald – ein großes Waldgebiet in Thüringen, das sich perfekt für lange Spaziergänge oder eben Wanderungen mit ein paar Bier eignete. Am Ende des Tages kamen sie dann in Omas Garten an.
Dann wurde der Grill angeworfen, das Fleisch brutzelte, und wir saßen zusammen, aßen und erzählten Geschichten. Das gehörte genauso dazu wie die Wanderung selbst.
Im Garten gab es ein kleines eigenständiges Gebäude, das nicht mit dem Haupthaus verbunden war. Links darinwar ein Schuppen, rechts das Bad – und beide Räume waren nur von außen zugänglich, untereinander aber nicht verbunden. Ich erinnere mich noch genau, wie es sich anfühlte, morgens aus der Laube zu kriechen, über die feuchte Wiese zu laufen und dann in dieses kalte Badezimmer zu gehen, während die Schuppenwände direkt daneben waren.
Hollywoodschaukel, Pflaumenbaum und lange Nachmittage
Im Mittelpunkt ihres Gartens stand ihre Hollywoodschaukel – das war ihr Platz. Wenn sie nicht gerade im Garten arbeitete, lümmelte sie sich dort hinein, ein Bein über die Lehne gelegt, und las stundenlang. Sie liebte Mystery & Krimis, besonders John Sinclair. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie in ihrer Schaukel lag, die Beine leicht schwang und in ein Buch vertieft war, mit einer Tasse Kaffee in der Hand.
Direkt neben der Schaukel stand ein Pflaumenbaum. Weil sie wusste, dass ich gern kletterte, hatte sie dort extra eine Leiter angekettet und ein Brett in eine Astgabel gelegt, damit wir sicher darauf herumturnen konnten. Natürlich bin ich auch mal mit viel Getöse heruntergefallen – aber genau das gehört zu einer richtigen Kindheit dazu.
Manchmal, wenn sie nicht las, las sie mir vor – Bücher aus ihrer eigenen Kindheit, Geschichten, die sie schon kannte und die sie mit mir teilte. Diese Nachmittage werde ich nie vergessen.
Fotos, Kniffel und Weihnachtsmärkte
Eine unserer liebsten gemeinsamen Beschäftigungen war es, alte Fotos anzusehen. Sie holte dann die Alben heraus, blätterte durch die Seiten und erzählte mir die Geschichten hinter den Bildern. Sie konnte Erinnerungen so lebendig machen, dass es sich anfühlte, als wäre ich selbst dabei gewesen.
Wir haben oft zusammen „Die Schatzjägerin“ geschaut – das war eine Serie, die sie geliebt hat, und ich habe oft mitgeschaut.
Jedes Jahr sind wir zusammen auf den Weihnachtsmarkt oder das Krämerbrückenfest gegangen. Der Erfurter Weihnachtsmarkt gehört zu den schönsten Deutschlands, mit Ständen voller Lichter, Glühwein, Süßigkeiten und dem großen Weihnachtsbaum vor dem Dom. Das Krämerbrückenfest ist ein mittelalterlich inspiriertes Stadtfest rund um die berühmte Krämerbrücke in Erfurt – mit Musik, Gauklern und Marktständen. Meine Oma mochte es, durch die Stände zu schlendern, sich die Handwerkskunst anzusehen oder einfach nur die Atmosphäre zu genießen.
Und dann gab es noch unsere Kniffel-Abende. Sie hat das Spiel genauso geliebt wie ich. Ich weiß nicht, wie oft wir da gesessen und die Würfel gerollt haben, aber ich weiß, dass sie es immer ernst genommen hat – und gewinnen wollte sie auch.
Als Kind hat sie oft mit mir in der Badewanne gespielt. Sie hat mir das Badewannenspielzeug selbst gebastelt – sie hat z. B. Actimel-Flaschen umgebaut, damit ich etwas zum Planschen hatte.
Später, als ich allein badete, saß sie manchmal auf dem geschlossenen Klodeckel, während ich in der Wanne lag, und las mir dabei vor.
Sie war keine typische „Strickoma“, aber sie konnte nähen und stricken – und hat meinen Plüschtieren oft kleine Kleider gemacht. Egal, ob aus Stoff oder selbst gestrickt, sie wollte, dass meine Kuscheltiere immer gut angezogen waren.
Ich hätte sie überall erkannt – an ihrem Geruch, an ihrer Stimme und an ihrem niedlichen Erfurter Akzent. Es war eine dieser Stimmen, die sofort ein Gefühl von Zuhause gaben.
Namen verwechseln – eine Familienkrankheit
Meine Oma hat ständig Namen verwechselt. Sie nannte meine Mutter immer bei meinem Deadname – und mich dafür konsequent „Heike“, so wie meine Mutter eigentlich heißt, mein Kurzzeitgedächtnis ist genau so erbärmlich, wie auch ihres gewesen ist. Meine Mutter wurde von diesem gen gemeinerweise hinterlistig übersprungen. 🙂
Leider habe ich nicht nur diese Angewohnheit von ihr geerbt – ich vergesse und verwechsle Namen genauso wie sie.
Gisela – Die Frau, die mir alles beigebracht hat
Meine Pubertät – und ihre Geduld mit mir
In meiner ersten Pubertät hat sie mich manchmal genervt – so wie wohl jede Oma, die sich kümmert. Ich sollte nicht so lange telefonieren und nach dem Essen immer in der Küche helfen. Das mochte ich damals nicht.
Aber je älter ich wurde, desto mehr wusste ich ihre Fürsorge zu schätzen.
Sie konnte außerdem verdammt gut kochen. Ihr Sauerbraten war legendär – und ihre Nudelsuppe hat alles geheilt, von Erkältungen bis Liebeskummer.
Oft gab es am Samstag zum Mittag ihre Nudelsuppe, und am Sonntag ihren legendären Sauerbraten – dazu ihren köstlichen Salat aus Gartengurken und Kräutern. Manchmal machte sie auch Gartenbohnensuppe, je nachdem, was gerade frisch war.
Sie liebte es, Dinge selbst zu machen. Marmelade und Likör stellte sie aus den Früchten und Beeren aus ihrem Garten her. Auch Apfelmus, Obstkompott und Apfelchips hat sie selbst gemacht – nichts war gekauft, alles kam aus ihrer eigenen kleinen Welt.
Sie wusste, dass mein Sehvermögen eingeschränkt ist, und hat immer versucht, mich dazu zu animieren, meinen Sehrest so gut wie möglich einzusetzen. Sie wollte, dass ich das Beste aus dem mache, was ich habe – und genau das hat sie mir vorgelebt.
Wenn die Welt mich fallen ließ, hat sie mich aufgefangen
Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich das Gefühl hatte, nirgendwo hinzugehören. Aber sie war immer da.
Als meine erste große Liebe mich während meiner Ausbildung verließ, nahm ich mir eine Woche Urlaub – und verbrachte sie bei ihr. Ich konnte mich dort verkriechen, während sie mir Kakao machte und mir einfach nur das Gefühl gab, dass ich nicht allein war.
Dann war da die Nacht, in der meine Ex mich in Schmiedefeld am Rennsteig auf die Straße setzte. Ich war damals noch nicht geoutet, lebte lesbisch – und plötzlich stand ich da, mitten im Nirgendwo, mit nichts.
Ich fuhr per Anhalter nach Suhl, übernachtete am Bahnhof und nahm den ersten Zug nach Erfurt. Von dort aus schleppte ich mich in die Straßenbahn und fuhr zu ihr.
Ich kam bei ihr an, völlig fertig – und sie nahm mich auf. Kein Drama, kein „Ich hab’s dir doch gesagt“. Sie machte mir Kakao, steckte mich ins Bett und ließ mich erst einmal schlafen. Ich durfte ein paar Tage bei ihr bleiben, einfach nur, um wieder auf die Beine zu kommen.
Und genau das war sie für mich – ein sicherer Hafen, egal was passierte.
Immer für mich da – und später mit eigenem Smartphone
Meine Oma hat mir immer geholfen, wenn es finanziell mal eng wurde. Sie hat mir alles ermöglicht, was sie konnte – und mein erstes Vertragshandy hatte ich dank ihr. Sie verstand zwar nicht ganz, warum das für mich so besonders war, aber sie wollte, dass ich es habe.
Jahre später hatte sie dann selbst ein Smartphone. Ich schenkte es ihr, als ich in der Schweiz lebte, damit wir miteinander sprechen konnten – und zwar per Videoanruf, damit wir uns nicht nur hören, sondern auch sehen konnten. Ich erklärte ihr geduldig, wie es funktioniert, und auch wenn sie nicht alles sofort verstand, war sie erstaunlich offen für die neue Technik.
Haschtee & ein legendärer Spieleabend
Aber sie konnte nicht nur modern sein – sie war auch verdammt cool. Ich hatte einmal beste Schweizer Qualität mitgebracht, und nicht nur, dass sie mir erlaubte, es auf dem Balkon zu rauchen – sie hat sogar mit mir Haschtee zubereitet.
Nach meinen Anweisungen hat sie das Hasch eine Stunde im Ofen decarboxyliert, dann daraus Butter gemacht, den Tee gekocht – und ihn mit mir getrunken. Danach hatten wir einen bekifften, unglaublich lustigen Spieleabend. Ich habe selten so mit ihr gelacht wie an diesem Abend.
Die letzten Jahre – Hilfe, Geduld und Schlaganfälle
Schon bevor sie ihre Schlaganfälle hatte, fing ich an, ihr zu helfen. Wenn sie Schmerzen hatte, behandelte ich sie. Ich tapete ihren Rücken, massierte ihre Muskeln und tat alles, um es ihr ein bisschen leichter zu machen.
Nach den Schlaganfällen wurde es schwieriger. Sie hatte fast keine Kraft mehr, konnte nicht mehr so gut sehen wie früher – aber sie wollte es sich nicht anmerken lassen. Sie war stolz darauf, immer selbstständig gewesen zu sein.
Meine Mutter wohnte näher bei ihr und konnte öfter helfen. Aber jedes Mal, wenn ich in Erfurt war, besuchte ich sie und tat, was ich konnte.
Trotz allem ließ sie sich nicht unterkriegen. Wenn sie sich ärgerte, fluchte sie wie immer – mal über den Rücken, mal über den Haushalt, mal einfach nur, weil ihr etwas auf die Nerven ging.
Das letzte Gespräch – und mein Gefühl dabei
Am 6. November 2024 rief mich meine Mutter an. Sie sagte mir, dass es meiner Oma nicht gut ging, dass sie nicht mehr lange leben würde. Ich wusste, dass ich etwas tun musste. Also griff ich sofort zum Telefon und rief im Krankenhaus in Erfurt an.
Sie konnte nicht mehr direkt mit mir sprechen, aber eine Schwester brachte das Telefon zu ihr ins Zimmer.
Ich weiß nicht, warum – aber in diesem Moment hatte ich eine ungeheure Gewissheit, dass ich sie nicht mehr sehen würde.
Damals war meine Stimme noch nicht so tief wie heute, und die Schwester merkte das an. Meine Oma erklärte es ihr mit ihren eigenen Worten – ich weiß nicht mehr genau, was sie sagte, aber sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie mich so akzeptierte, wie ich war.
Ich ließ ihr ausrichten, dass ich sie ganz doll lieb habe.
Sie antwortete knapp: „Ist gut.“
Doch die Schwester grinste und sagte mir, dass sie dabei sehr lieb gelächelt habe.
Das war das letzte Mal, dass ich sie hörte.
Am 7. November 2024 starb sie.
Der Moment, in dem ich von ihrem Tod erfuhr
Ich hatte bereits meine Fahrt nach Erfurt gebucht. Ich wollte zu ihr. Aber als ich das Haus gerade verlassen wollte kam der Anruf meiner Mutter – zu spät.
Ich musste alles wieder abbestellen.
Und plötzlich war sie weg.
Ihre Beerdigung – so schlicht wie möglich
Meine Oma wollte nie viel Aufhebens um sich machen – auch nicht nach ihrem Tod. Sie wollte nicht, dass mit ihr Geld verdient wird. Sie hatte noch zu Lebzeiten entschieden, dass sie die günstigste Bestattung wählt, die möglich ist.
„Ich mach doch nicht noch die Bestatter reich“, hätte sie gesagt.
Und so wurde es. Keine große Zeremonie, kein unnötiger Aufwand – sondern genau das, was sie wollte.
Ihre typischen Sprüche – unvergessen
- Wenn man ein wenig frech war: „Reiß dich zusammen, sonst flattert hier gleich ein Bündelchen Lumpen rum.“
- Wenn man sich beeilen sollte: „Voran, voran.“
- Wenn man etwas ausgefressen hatte, was aber nicht so schlimm war: „Ich guck dich nur an.“
- Wenn jemand etwas sagte, das er tat: „Machen Sie nur, Frau Wiesenhüter, machen Sie nur.“
- Einen beliebigen Mann nannte sie oft „Flöhhahn“, wenn sie es spielerisch abwertend meinte.
- Partner von Familienmitgliedern nannte sie immer „der Gutste“ oder „die Gutste“.
Das Loch, das bleibt
Noch heute sind mehrere Erinnerungsstücke von ihr bei mir:
- Klerenz, ihr Stofflöwe, der jetzt auf meiner Eckbank sitzt.
- Helga, ein kleines Plüschmurmeltier, das sie mir geschenkt hat – es sitzt immer noch in meinem Bett.
- Ein altes Spiel mit Pfennigen, das wir zusammen gespielt haben.
- Einen ihrer Lieblingstöpfe, den ich immer noch benutze.
Manchmal sehe ich sie noch vor mir, wie sie in ihrer Hollywoodschaukel liegt, ein Bein über die Lehne geworfen, ein John-Sinclair-Buch in der Hand, mit einer dampfenden Tasse Kaffee neben sich.
Oma, wo immer du jetzt bist – ich hoffe, es gibt dort eine Hollywoodschaukel und eine Kanne heißen Kaffee für dich. Ich hoffe, Opa sitzt neben dir, dein Diterchen. Und ich hoffe, du weißt, dass du der wichtigste Mensch in meinem Leben warst.
Danke für alles.