Zum Inhalt springen
Startseite » Aufgegabelt und aufgedreht – Die Geschichte der Asphaltgeister

Aufgegabelt und aufgedreht – Die Geschichte der Asphaltgeister

  • von

Prolog: Vier Worte, zu viel Bohnen und ein Staubsaugerhund

Es war Dienstagabend. Die Sonne hatte sich hinter der Kläranlage verkrochen, und der Himmel sah aus wie das letzte Taschentuch nach einer durchgezechten Nacht. Glenda war unterwegs zur Westseite der Brücke – dahin, wo der Wind immer leicht nach Urin, altem Brot und Grundsatzdebatten roch.

Eigentlich wollte sie nur kurz die Konservendosen inspizieren. Vielleicht lag noch ’n halbes Würstchen rum. Aber stattdessen sass da: die Müllkatze.

Eine Gestalt aus schütterem Fell, stumpfem Blick und einem Maulwerk, das ohne Punkt und Komma lief. Sie balancierte auf einem zerdepperten Rutschauto und kippte sich schluckweise kalten Bohnensud aus einer Dose rein – direkt, ohne Löffel, ohne Ehre.

„Ey! Bleib mal kurz stehen! Du bist doch Glenda, oder? Die mit der Meinung und dem Gesicht! Ich hab da was… also das musst du wissen… also wirklich, ich war mal mit einem Hund zusammen! Kein normaler – ein Mischling aus Staubsauger und Rottweiler! Der hat hinten geblasen und vorne gebissen!“

Glenda blieb stehen. Nicht aus Interesse. Sondern aus reiner sozialer Vorsicht. Die Katze sah aus wie jemand, der beim Alleinsein zu heulen begann und beim Heulen in Diskussionen abrutschte.

„Der hat immer auf einer leeren Matratze geschlafen, mitten auf der Kreuzung! Und wenn er niesen musste, hat das Fensterläden zerlegt! Wirklich wahr! Wir waren zwei Monate zusammen – bis er mit einer Taube durchgebrannt ist, die angeblich mit den Kanalratten unter einer Decke steckte!“

Glenda sagte nichts. Nur ein kleines, neutrales Blinzeln.

Die Katze nahm wieder einen tiefen Zug Bohnensud und schmatzte triumphierend.
„Aber das Beste kommt noch! Der hat jedes Jahr dieses eine Wochenende zelebriert – das 39. Wochenende im Jahr, hat er gesagt. Rocker. Freibier. Eifel. Richtiges Spektakel mit Leder und Lärm. Ich hab das nie geglaubt, aber… vielleicht is’ ja was dran, wa?“

Dann war die Dose leer. Sie fiel klirrend zu Boden und rollte in eine Pfütze aus altem Regen und schlechter Entscheidungen.

„Joah… cool“, murmelte Glenda. „Ich… äh… muss noch ’n Senfglas checken. Oder so.“

Sie drehte sich um und ging.
Schon beim Weggehen trat sie fast auf ein zusammengefaltetes Etwas – ein alter Kalender, der neben dem Container halb im Matsch lag.
Sie hob ihn auf, schüttelte ihn halbherzig aus. Die Ecken wellten sich wie der ungepflegte Bart eines alten, beleidigten Seemannes. Sie blätterte durch die vergilbten Seiten, bis sie bei Oktober hängenblieb.

„Woche 39.“

Sie rechnete kurz. Dann nochmal.
Zwei Wochen noch.

Glenda starrte einen Moment in die Ferne.
Nicht, weil sie wirklich überzeugt war.
Sondern, weil Langeweile manchmal komische Türen öffnet.
Und weil sie plötzlich Bock auf ein Spektakel hatte, das vielleicht gar nicht existierte.

Dann trottete sie zurück zur Brücke – mit einem zerknitterten Kalender in der einen Pfote und vier absurden Worten im Kopf.

Kapitel 1: Vier Worte und ein Haufen Schrottideen

Als Glenda zurück zur Brücke kam, war alles wie immer – was in Gossenkreisen hiess: leicht chaotisch, etwas angekokelt und seltsam gemütlich.

Pandora sass auf einem umgekippten Farbeimer, eine brennende Kippe im Maul, und versuchte, mit einem halb zerbrochenen Kugelschreiber ein altes Funkgerät zu überreden, wieder Geräusche zu machen. Erfolglos, aber sehr konzentriert.

Crest lag in einer alten Salatschüssel, halb drin, halb draussen, und sortierte rostige Schrauben nach Klangfarbe. Niemand verstand, warum. Wahrscheinlich nicht mal er.

„Ich hab vielleicht was gehört“, sagte Glenda und liess sich auf einen aufgetürmten Stapel kaputter Holzlatten sinken. Sie warf den zerknitterten Kalender achtlos zur Seite – den, den sie eben beim Container aufgelesen hatte. Jetzt war er wieder genau dort, wo er hingehörte: im Bier-Senf-Matsch der Realität.

„Wenn das wieder um diese verschwundene Kanalratte geht, die angeblich Steuerberater war, dann will ich’s nicht hören“, murmelte Crest, ohne aufzusehen.

„Nee. Diesmal geht’s um Freibier.“

Beide schauten auf.
Sogar Pandoras Kippe glomm kurz heller vor Interesse.

„Ich war grad bei der Müllkatze“, begann Glenda. „Die hat mal wieder ihre Staubsaugerhund-Exgeschichte erzählt. Komplett durch. Und dann hat sie mitten im Redefluss gesagt, ihr Typ wär jedes Jahr zum Rockerwochenende gefahren. In der Eifel. Das 39. Wochenende. Mit Freibier.“

Pandora zog skeptisch an ihrer Kippe. „Eifel? Gibt’s die wirklich?“

„Weiss nicht. Und ob das stimmt, keine Ahnung. Die hat Bohnensud gesoffen, dazu vermutlich Klebstoff inhaliert – der Blick war jedenfalls schon zwei Meter weiter links.“

Ein Moment Stille.
Dann Crest richtete sich in der Salatschüssel auf, sah aus wie ein Prophet auf einem Plastikthron – mit dem Blick eines Reptils, dem gerade ein gefährlicher Gedanke gekommen war.

„Also… wenn’s ein Rockerwochenende ist… dann brauchen wir Bikes.“

„Was?“ Pandora sah ihn an, als hätte er gerade vorgeschlagen, ein Atomkraftwerk aus alten Taschenlampen zu bauen.

„Rocker haben Bikes. Wir wollen dahin. Also sind wir bald Rocker. Und Rocker brauchen verdammt nochmal Motorräder.“

„Aus was denn?“, fragte Pandora trocken.

„Aus dem, was wir haben. Müll. Räder. Stahl. Hoffnung. Ich hab mal von einem Typ gehört, der mit einem Staubsaugermotor und einem Einkaufswagen bis Koblenz gekommen ist.“

„Natürlich hast du das“, murmelte Glenda. „Natürlich war Koblenz im Spiel.“

Crest grinste jetzt. Weit. Verrückt.
„Wir bauen unsere Bikes. Und dann fahren wir alle zusammen dahin. Eifel. Freibier. Ruhm.“

Pandora lehnte sich langsam zurück, sog den letzten Rest aus der Kippe und liess den Filter fallen.
„Das ist die dümmste Idee, die ich seit drei Tagen gehört hab. Ich bin dabei.“

Glenda öffnete eine leicht aufgequollene Konservendose, indem sie mit einem scharf gekauten Einkaufswagenchip und einem rostigen Kugelschreiberdeckel so lange daran kratzte, bis sie aufging.
Niemand kommentierte es. Es funktionierte.

„Wenn ihr euch umbringt, will ich ein anständiges Begräbnis.“

„Deal“, grinste Crest. „Aber erst nach dem Freibier.“

Und so begann es.
Mit vier Worten, einer grössenwahnsinnigen Idee –
und einem Geckotrio, das nie gelernt hatte, rechtzeitig „Nein“ zu sagen.

Kapitel 2: Schrott, Schwachsinn und ein Name wie ein Schleudertrauma

Der Rest des Tages verlief so, wie Pläne unter der Brücke meistens verlaufen: mit viel Aktionismus, wenig Konzept und jeder Menge fragwürdiger Motivation.

Pandora durchsuchte ein altes Einkaufswagennest nach brauchbaren Rollen, Crest versuchte aus zwei Schirmständern ein Fahrgestell zu improvisieren (es knickte nach zehn Minuten zusammen), und Glenda fischte mit einem Haken aus Draht ein halbversunkenes Blechteil aus dem Abfluss, das sie sofort „Grundstruktur A“ nannte, obwohl niemand wusste, was das heissen sollte.

Gegen Abend begannen sie, den „Besprechungsbereich“ vorzubereiten – was bedeutete, die umgekippte Bierzeltgarnitur wieder aufzustellen und den gröbsten Dreck vom Tisch zu pusten. Dazu schleppte Crest noch eine fleckige Matratze heran, von der niemand genau wusste, woher sie kam.

„Wozu zum Geier…?“ begann Pandora.

„Jede Gang braucht einen Dämpfungsbereich für hitzige Diskussionen“, erklärte Crest mit ernster Miene. „Oder zum Draufwerfen. Falls einer ausflippt.“

„Du meinst dich selbst?“

„Ich rede nicht mit Feinden der Infrastruktur.“

Die Nacht roch nach alten Batterien, warmem Plastik und Ideen, die besser in der Dose geblieben wären. Das war der perfekte Zeitpunkt für ein Meeting.

Glenda, Pandora und Crest sassen auf der wieder aufgestellten Bierzeltgarnitur. Crest hatte sich eine Fahrradkette wie eine Krawatte um den Hals gelegt – „wegen der Autorität“ – und glotzte ernst in die Runde.

„Wir brauchen ’nen Namen“, sagte er. „Ohne Namen keine Gang. Ohne Gang kein Respekt. Ohne Respekt kein Freibier.“

„Aha“, meinte Glenda. „Dann sag mal an, Einstein.“

„Wie wär’s mit… Schattenschleicher MC?“

Pandora verzog das Gesicht. „Klingt wie ’ne verdammte Insektenschutzcreme.“

„Okay, äh… Flammenlauerer?“

„Klingt wie ein 15-jähriger mit Feuerzeugproblem.“

„Todesrollen?“

„Hör auf.“

Glenda hob eine leere Dose. „Wie wär’s mit: Die Verbeulten.“

„Das klingt nicht gefährlich“, beschwerte sich Crest. „Das klingt wie Rentnertreffen mit Kopfweh.“

„Na dann mach doch besser, Chromhirn.“

Sie stritten sich noch eine Weile, ohne irgendeinen brauchbaren Vorschlag. Irgendwann standen sie auf, um „frische Luft zu holen“, was in Brückensprache bedeutete: ziellos rumlaufen, Müll inspizieren und sich über Krähen lustig machen.

Dann blieb Pandora stehen. „Ey. Guckt mal da.“

An einer Betonwand, halb unter einem gammeligen Hängesack voller Pfandflaschen, prangte ein Graffiti. Fast vollständig übermalt, verwittert, verwischt – aber noch lesbar:

„Asphaltgeister“

Glenda blinzelte. „Das klingt… irgendwie bekloppt. Aber nicht komplett besoffen.“

„Klingt wie ’ne Mischung aus Totenkult und TÜV“, meinte Pandora.

Crest nickte langsam. „Das ist es. Das ist der Name.“

„Warum auf Deutsch?“ fragte Glenda. „Normalerweise heissen die doch Hellrider Slayers oder so’n Quatsch.“

„Weil wir deutsch schreien, wenn wir auf die Fresse fliegen“, grinste Crest.

Alle nickten.
Keiner lächelte.
Aber man sah’s ihnen trotzdem an.

Die Gang war geboren. Die Asphaltgeister.

„Okay“, sagte Pandora. „Nächster Punkt: Wie zum Teufel bauen wir Motorräder aus dem Scheiss, der hier rumliegt?“

„Wir brauchen Rahmen. Räder. Irgendwas, das knattert“, zählte Crest auf. „Ich sag, wir plündern den Sperrmüllplatz beim alten Baumarkt. Da liegt Zeugs rum, das hat mehr Charakter als mein linker Zeh.“

„Und ’ne Gang braucht Struktur“, warf Glenda ein. „Einer macht Planung. Einer baut. Einer… schreit sinnlose Befehle.“

Alle sahen zu Crest.

„Was?! Ich bin der Visionär hier.“

„Du bist der Einzige, der sich selbst Kommandos gibt“, murmelte Pandora.

„Dann bin ich der Anführer!“

„Klar. Und ich bin die Feuergöttin von Lidl“, meinte Glenda trocken.
„Aber wenn du willst, kannst du die Pläne zeichnen. In den Dreck. Mit ’nem Stock.“

„Gibt’s sonst noch was?“ fragte Pandora, bevor Crest wieder loslegen konnte.

„Leute. Wir brauchen noch mehr Wahnsinnige. Drei sind zu wenig.“

„Und wer will schon allein besoffen auf der Bundesstrasse umkippen“, murmelte Glenda.

„Also gut.“ Pandora schnippte ihre Kippe weg. „Wir klauen Material. Wir entwerfen Bikes. Und dann schnorren wir uns ein paar Leute zusammen, die doof genug sind, mitzumachen.“

Crest breitete die Arme aus, als hätte er gerade das Evangelium des Schrotts verkündet.

„Wir sind die Asphaltgeister. Und in zwei Wochen… rollt der Donner.“

Kapitel 3: Bierflakes, Brückengesetze und Bekloppte mit Bauambitionen

Der nächste Morgen begann wie jeder legendäre Bauplan: mit Bierflakes, Schnaps und einem Joint, der aus Reststücken von drei Vorgängern zusammengedreht worden war.

„Bierflakes“ – das war das Frühstück der Gossenelite: aufgeweichte Kornflakes aus einer vergessenen Mülltonne, aufgegossen mit lauwarmem Dosenbier. Schmeckte nach Pappe, aber sättigte besser als Würde.

Der Schnaps kam aus einer alten Thermoskanne ohne Deckel, die irgendwann mal irgendwo geklaut worden war. Herkunft unklar. Inhalt: vermutlich Apfel – vielleicht aber auch das Reinigungsmittel von einem Busdepot.

Der Joint war ein heiliger Ritus. Drei Sorten Gras, ein halber Teebeutel und Papier von einem zerkauten Kassenzettel. Geraucht wurde schweigend – nicht aus Ehrfurcht, sondern weil keiner wusste, wie viel davon überhaupt noch THC war.

Glenda löffelte ihre Bierflakes mit einem verbogenen Löffel, dessen Griff notdürftig mit Gaffa-Tape verlängert war. Pandora rauchte mit halb geschlossenen Augen in den Himmel. Crest sass rückwärts auf der Bank und hielt ein abgebrochenes Zeltgestänge in den Himmel, das er „Befehlsantenne“ nannte.

„Also“, sagte Pandora nach dem zweiten Zug. „Bevor wir heute irgendwas machen: eine Regel.“

„Keine Waffen vor acht Uhr?“

„Die Brücke bleibt uns. Das hier ist unser Platz. Treffpunkt, Zentrale, Hauptquartier – wie auch immer du’s nennen willst. Aber kein Penner zieht hier ein.“

„Klar“, nickte Glenda. „Wir sind ’ne Gang, kein Obdachlosenwohnheim mit Sichtschutz.“

Crest hob zwei Finger. „Ehrenwort.“

„Und jetzt: Leute rekrutieren.“

Sie trennten sich wortlos. Jeder wusste, was zu tun war.


Glenda schlenderte mit demonstrativer Gleichgültigkeit durch ein Hinterhoflabyrinth aus Schrott, Plakatfetzen und Pissgestank.
An einer bröckelnden Mauer, hinter der irgendwas knisterte, stand eine hohle Litfaßsäule.
Darin lebte eine Ratte mit Glitzerkrawatte, die gerade versuchte, eine Konservendose mit einem Taschenrechner zu besteuern.

„Ich such Leute für was Grosses“, sagte Glenda.
„Ich hab ein gebügeltes Hemd und ’ne Paranoia gegen Katzen. Reicht das?“
„Perfekt. Wie heisst du?“
Daggi. Aber wehe, jemand nennt mich wieder Dagoberta.“

Ein paar Gassen weiter, auf einem wackligen Baugerüst, saß ein Kater mit Aquariumhelm und diskutierte mit einer leeren Mülltonne über Fluchtwege.

Der „Aquariumhelm“ war ein zerbrochenes Glas-Aquarium, das er sich wie ein Raumfahrer über den Kopf gestülpt hatte – als angeblicher Schutz vor Licht, Luft und Realität. In Wirklichkeit ein Resonanzkörper für den Wahnsinn.

„Brauchst du Hilfe?“ rief Glenda.
„Ich bin Sicherheitsbeauftragter für spontane Desaster!“
„Schön. Du bist ab jetzt unser Risiko.“
„Nenn mich Wojtek.“


Pandora stieg eine alte Bahntrasse hoch, vorbei an verbogenen Schienen und einem ausgebrannten Imbissstand.
Dort entdeckte sie eine Elster, die auf einem Einkaufswagenhügel saß und mit einer Dosengitarre klimperte – einem Besenstiel, einer Konservendose, einer Gitarrensaite und einer ungesunden Menge Leidenschaft.

„Willst du mitmachen?“
„Kommt drauf an. Gibt’s Groupies?“
„Wenn du Glück hast – Tauben in Lederwesten.“
„Ich bin Elfi. Und du hast mich.“

Hinter einer verwitterten Werbetafel lag ein Fuchs in einem Schlafsack aus alten Tageszeitungen. Er kaute auf einem Stromkabel und grinste, als Pandora näher kam.

„Ich kann mit Maschinen reden.“
„Und was sagt das Kabel?“
„Es sagt, du brauchst mich.“
„Na gut. Und du heisst…?“
Branko. Mit ’nem B.“

Auf einem Strommast schrie eine Krähe mit Megafon wechselweise „Bananen haben Gefühle!“ und „Der Mond ist ein Spion!“.
Pandora hielt eine alte Bierdose hoch.
„Rekrutiert. Mittwoch ist gerettet.“
„Ich bin Milena. Schreib’s, wie du willst – ich tue es auch nicht.“


Crest kletterte über einen Maschendrahtzaun in ein altes Industriegelände.
Unter einem Haufen zerbeulter Altgeräte werkelte ein Igel mit blauen Haaren, der Zahnräder aus Cola-Dosen schnitzte und sich Notizen mit Lippenstift machte.

„Ich baue eine Zahnradkirche mit Drehaltar.“
„Bringst du deine eigene Religion mit?“
„Ja, aber sie basiert auf Rost.“
„Name?“
Benny. Einfach Benny.“

Hinter einer Autowaschanlage ragte ein Autoreifen aus einem Stapel Schrott.
Langsam krabbelte daraus eine Schildkröte hervor – mit Leselampe, bettdecke und einem Funkgerät auf dem Rücken.

„Ich bin komplett mobil. Aber nicht besonders schnell.“
„Ist okay. Wir sind ’ne Gang, kein Rennteam.“
„Ich heisse Zlatka. Und ich funke nur auf einer Frequenz – meiner.“


Am Abend trafen sie sich wieder unter der Brücke.
Die Neuen kamen auf Rollbrettern, in Einkaufswagen, zu Fuss oder getragen von ihrer eigenen Verwirrung.

„Ich hoffe, das ist der Bewerbungsgesprächsbereich“, murmelte Benny und trat auf eine Bierdose.

„Ich hab euch ’ne Hymne geschrieben!“, rief Elfi.
„Nicht jetzt!“, fauchte Milena durchs Megafon. „Ich muss erst die Aura hier fühlen!“

„Ich brauch ’ne Steckdose. Für… Dinge“, sagte Branko.
„Ich brauch Alkohol!“, ergänzte Wojtek.
„Ich brauch Ohrstöpsel“, knurrte Glenda.

Dann trat sie vor, stellte sich auf den Biertisch und sprach so trocken, dass der Beton fast mitbröckelte:

„Hört zu, ihr Dreckskünstler. Wir gründen ’ne verdammte Biker-Gang.
Mit Motoren, Lärm und allem, was stinkt und kracht.
Und noch was: Die Brücke hier – das ist unser Treffpunkt.
Aber macht euch eins klar: Die Brücke gehört uns.
Ihr wohnt nicht hier. Ihr hockt nicht hier. Ihr pennt nicht hier.
Ihr baut hier. Und dann verpisst ihr euch wieder in eure kleinen, schimmelnden Königreiche.“

„Meins hat Teppich!“, rief Daggi.
„Ich hab Asbest unter’m Kopfkissen!“, ergänzte Zlatka.
„Ich hab eine Luftmatratze!“, sagte Benny stolz.

Dann knurrte Daggi erneut:
„Ich arbeite mit jedem zusammen. Mit Tauben. Mit Schildkröten. Meinetwegen auch mit ’nem Toaster.
Aber nicht mit dem da!“ – Sie deutete auf Wojtek.

„Warum nicht?“ fragte Pandora.
„Weil er seinen Helm auch im Schlaf trägt! Ich sag’s euch – der empfängt was. Signale, Strahlen, Ordnungsbotschaften!“

„Ich bin ein Signal“, sagte Wojtek und hob stolz den Daumen. „Ein Notruf mit Stil.“

Niemand widersprach. Nicht mal aus Höflichkeit.

„Gut“, sagte Crest. „Dann… sind wir vollständig.“

„Fast“, meinte Pandora.

„Fehlt was?“

„Material.“

„Und Plan.“

„Und Talent“, fügte Glenda hinzu.

Ein Moment Pause. Dann lachten sie.
Laut, dreckig und ehrlich.
Jetzt konnte gebaut werden.

Kapitel 4: Schrott sammeln

Donnerstag

Es war Donnerstagmorgen, und das bedeutete: niemand hatte Bock, aber alle mussten ran.

Glenda stand auf dem Biertisch, der schief wie ihre Geduld war, und hielt eine leere Konservendose wie ein Megafon vor den Mund.

„Aufgepasst, ihr rostigen Revolutionäre!“

Elfi klimperte auf ihrer Dosengitarre, Milena krähte „Apokalypse ist montags!“, und Benny sortierte Schrauben nach Geschmack.

„Wir haben vier Tage. Jeden Tag zieht eine andere Gruppe los. Heute bin ich mit Daggi und Zlatka dran.“

„Ich will aber nicht mit dem Helmträger!“, fauchte Daggi sofort.
„Keine Sorge“, brummte Glenda. „Wojtek ist erst Samstag dran. Du kannst also weiterleben.“

„Bis Sonntagabend muss alles da hinten liegen“ – sie deutete auf einen alten Käfig aus geklauten Bauzäunen am Brückenrand, mit einem gesprayten Schild:
SCHROTT-BEREICH – NUR FÜR GEISTIG FLEXIBLES MATERIAL
„Montagmorgen treffen wir uns dort wieder. Dann wird gebaut. Oder explodiert. Eins von beidem.“

Zlatka erzählt:

Ich bin nicht für Tempo gebaut. Mein Funkgerät hat mehr Ausdauer als meine Beine. Trotzdem schlepp ich heute Zeug. Weil Glenda es sagt. Und Daggi motzt, wenn sie nix zu meckern hat.

Wir ziehen los. Glenda vorneweg, entschlossen wie eine Abrissbirne auf vier Beinen. Daggi trippelt auf vier Pfoten um sie herum und redet in drei Richtungen gleichzeitig. Ich stapfe hinterher, während mein Funkgerät in kurzen Zuckungen sendet, als wolle es mir sagen, dass es lieber irgendwo in einer Thermoskanne wohnen würde.

„Wir brauchen stabilen Schrott“, sagt Glenda. „Räder, Achsen, Metallplatten. Kein Kitsch.“

„Ich hab da mal was gehört von ’nem alten Kinderradfriedhof“, murmelt Daggi.
„Was?“
„Ein Platz, wo Kinder ihre Fahrräder sterben lassen. Hinterm Schwimmbad.“

Wir gehen da hin. Es stinkt nach Chlor und Pommes, aber Daggi hat recht: Der Ort ist voll mit kaputten Dreirädern, zerbeulten Rollern und einem Bobbycar mit eingebauter Lichterkette.

„Wenn das nicht Rocker-Material ist“, sagt Glenda trocken. Dann reißt sie die Lichterkette raus und nimmt sie mit – Dekoration, für später. Ich schnappe mir zwei kleine Räder und den verbogenen Rahmen eines Laufrads – irgendjemand wird daraus ein Vorderrad machen. Daggi findet einen Einkaufswagen mit einer klirrenden Thermoskanne darin. Sie nennt ihn „symbolisch aufgeladen“.

„Symbolisch?“
„Ja. Für das, was wir sein könnten.“
Glenda seufzt so tief, dass mein Funkgerät ein bestätigendes Knacken von sich gibt.

Später finden wir noch ein altes Verkehrsschild mit Einschusslöchern. Glenda nimmt es kommentarlos – das wird ein Schutzschild oder ein Nummernschild, irgendwas davon. Daggi will es bemalen. Ich funke das Schild einmal an. Es antwortet nicht. Aber es darf mit.

Als wir abends zurückkommen, kippen wir den Kram in den SCHROTT-BEREICH. Glenda markiert ihn mit schwarzem Isolierband. Daggi malt mit Lippenstift ein „G“ auf das Verkehrsschild. Ich esse eine kalte Dose Erbsen-Mais-Mix. Das Funkgerät spielt 80er-Rauschen. War ein guter Tag.

Freitag

Milena erzählt:

Freitage sind was für Leute mit Arbeitsverträgen. Wir haben nur Flügel, Wahnsinn und eine Mission: Schrott.

Pandora trottet voran, schweigsam wie immer, mit diesem Blick, als würde sie innerlich ganze Straßenzüge anzünden. Elfi tanzt neben ihr her, wie ein silberner Albtraum auf Speed, ihre Dosengitarre klimpert bei jedem Schritt, weil sie vergessen hat, sie abzustellen. Ich fliege über ihnen. Nicht weil ich muss, sondern weil ich kann.

Unser erstes Ziel: der alte Hinterhof bei der Lagerhalle, wo angeblich ein kaputter Kleintransporter steht. Ein halbes Bike ist besser als kein Bike.
Und siehe da: Das Ding liegt auf der Seite wie ein gestrandeter Wal aus Blech. Pandora sagt nichts. Sie tritt einfach einmal kräftig gegen die Beifahrertür. Sie fällt ab.

„Nehmen wir“, sagt sie.
Elfi klatscht. „Ich hör Musik, wenn Metall kracht!“
Ich nicke. Und lande auf der Haube.

Die Seitenspiegel sind noch dran. Elfi rupft sie ab wie Weihnachtskugeln vom ausgedienten Tannenbaum. Pandora findet einen verbeulten Benzinkanister, der halb voll ist – sie schnuppert dran, zuckt mit den Schultern und nimmt ihn mit. Ich finde eine antike Fahrradhupe, verbeult, aber laut. Ich liebe sie jetzt schon.

Dann entdecken wir im Schatten der Halle einen Einkaufswagen mit seltsamen Inhalt: ein Plastikskelett mit einer Perücke, Sonnenbrille und einer aufgeklebten Zielscheibe auf der Brust. Niemand stellt Fragen.
Pandora hebt das Ding an. „Sitzfigur?“
Elfi zupft an der Perücke. „Ich nenn sie Ramona.“
Ich singe ein improvisiertes Lied über Ramona, die Schutzgöttin des Unfalls.

Wir ziehen weiter. Hinter dem Lager liegen stapelweise alte Teppichrollen, vollgesogen mit Gott weiß was. Pandora lädt eine auf ihren Rücken.
„Knieschoner deluxe“, meint sie.
Elfi rollt eine kleinere über den Boden und schreit: „Teppichbombe, los!“
Ich beschließe, sie später vielleicht doch nicht zu essen.

Als wir wieder bei der Brücke ankommen, kippen wir alles in den Sammelbereich. Ramona kommt obendrauf, thront jetzt über allem. Ich befestige die Hupe an ihrem Arm.
„Jetzt ist sie komplett“, sage ich.
Pandora nickt.
Elfi stimmt ein Lied auf ihrer Dosengitarre an, das nur aus drei Akkorden besteht – aber alle gleichzeitig.

Ich lande auf dem Schild am Rand und brülle in die Nacht:
„Freitag ist geliefert, Baby!“

Samstag

Branko erzählt:

Heute wird es ernst. Nicht, weil jemand einen Plan hat – sondern weil der Plan einfach „Mehr“ heißt. Mehr Räder, mehr Rahmen, mehr Lärm. Mehr von allem, was quietscht, klappert und Ärger macht.

Ich bin mit Crest und Wojtek unterwegs. Crest vorneweg, schmal, schnell, die Krallen bereit zum Klettern. Wojtek hinten, mit einem neuen, noch größeren Aquariumhelm – „für maximale Abschirmung“, sagt er. Ich lauf dazwischen, mit einem Stromkabel im Maul, das ich vorher befragt hab. Es sagt: „Wird chaotisch.“

Unser Ziel: ein altes Industriegebiet am Stadtrand, offiziell versiegelt, inoffiziell ein Abenteuerspielplatz aus Schrott.
Da liegt alles, was sich nie verkaufen ließ – kaputte Einkaufstrollis, Kinder-Motocross-Bikes, ausgeschlachtete E-Roller, Eisenstangen, Drahtspulen, verrostete Gitterkörbe, sogar eine halbe Schaukel.

Crest klettert auf ein Vordach, von dem ein halber Fahrradrahmen hängt. „Den brauch ich.“
„Der hängt fest“, sag ich.
„Nicht mehr lange.“
Dann springt er dagegen. Das Dach knirscht beleidigt – aber der Rahmen fällt. Und Crest gleich mit. Er landet zwischen zwei Metalltonnen, grinst und hält den Rahmen hoch wie eine Trophäe.

Wojtek rammelt währenddessen einen verbeulten Kühlschrank. „Der gehört zu mir! Ich spüre es!“
Ich lass ihn machen.
Ich schnapp mir zwei leere Gasflaschen – Not-Turbos oder Explosionsquelle, ganz nach Laune.
Crest zieht eine Lenkerstange aus einem Haufen Kabel und ruft: „Das hier wird mal ein Sattelrohr! Oder ein Schlaginstrument.“

Als der Haufen zu groß wird, ruft Crest: „Wir brauchen Träger!“
Und plötzlich tauchen sie auf – fünf oder sechs **Straßenratten**, die uns am Vortag schon neugierig bei der Brücke beobachtet hatten.
Verschrammte Gesichter, fettige Pelze, zerrissene Ohren. Einer trägt einen Nagel im Maul wie ’ne Zigarre.

„Bock zu schleppen?“
„Gibt’s was dafür?“
„Schmerz, Stolz und Ruhm.“
„Geil.“

Gemeinsam schleppen wir: ein Einkaufswagen voll Metallplatten, eine Badewanne mit Loch („Radschutz deluxe“, sagt Crest), ein Motorrad-Tank mit Rostpatina, ein kaputter Staubsauger („Raketenattrappe“) und ein Set verbeulter Werkzeugkoffer – leer, aber dramatisch aussehend.

Dann tritt er aus dem Schatten:
Ein großer Kater, pechschwarz, Sonnenbrille, Zigarrenstummel im Maul, ein Werkzeugkasten auf dem Rücken und einen Schraubenschlüssel in der Pfote, der aussieht wie ein heiliges Relikt.
Die Ratten weichen zurück. Wojtek verbeugt sich. Crest bleibt wie angewurzelt stehen.

„Du bist’s.“
Der Kater nickt.
„Du hast gesagt, du brauchst Arbeit. Und Geld.“
„Hab keins. Aber ich hab Hände und schlechte Entscheidungen.“
„Montag. Brücke.“
„Zehn Bier und eine warme Mahlzeit.“
„Zehn lauwarme Bier und ein halber Dosenfisch.“
„Deal.“

Als wir zur Brücke zurückkommen, sieht der Sammelplatz aus wie ein Schrott-Museum mit Größenwahn. Die Ratten lassen ihre Beute fallen, verbeugen sich vor Ramona dem Plastikskelett und verschwinden in den Abflussrohren der Nacht.

Wojtek lehnt sich an den Kühlschrank. Crest schiebt ihm eine alte Radkappe über den Helm.
„Zur Erdung“, sagt er.
Ich roll mein Kabel aus. Es knistert leise.

„Morgen ist Finale. Bring Feuer mit.“

Sonntag

Benny erzählt:

Letzter Tag. Wenn wir heute nicht alles holen, was uns noch fehlt, stehen wir morgen mit Ramona und einem Bobbycar da und gucken dumm aus der Wäsche.

Ich steh grad am Rand vom Schrottbereich und schieb mit der Schnauze ein paar Rohre zur Seite, da tauchen sie auf: zwei von den Straßenratten, die gestern mitgeschleppt haben.

„Ihr hattet gestern so viel zu schleppen“, sagt die größere. „Dachten, gegen ’n bisschen alten Müll helfen wir heut beim Suchen.“

Ich schau sie mir genauer an:
Die große trägt ’ne viel zu dicke Wollmütze über den Ohren, selbst jetzt im Herbst – ich nenn sie Wollmütze.
Die kleinere hat exakt drei Zähne und einen Blick, der alles gleichzeitig anklagt und auslacht – die wird Dreizahn.

„Klar“, sag ich. „Wenn ihr was mit Rollen, Ketten oder Motorgeräuschen auftreibt – Jackpot.“

Wir ziehen los, zu einem alten Parkplatz hinterm ehemaligen Technikmarkt. Da gammelt der letzte Rest zweirädriger Würde vor sich hin:
Mofas mit Pflanzen im Auspuff, Roller mit durchgetretenem Bodenblech, Rasenmähermotoren auf Kinderrädern – das perfekte Jagdgebiet.

Wollmütze robbt unter einen Schrotthaufen und zieht zwei halb verrottete Reifen mit Speichen raus. „Die drehen noch“, grinst sie.
Dreizahn hängt an einem Metallpfosten und löst mit purer Wut ein komplettes Vorderrad. „Hübsch gleichmäßig verbogen. Könnte passen.“

Ich find einen vergessenen Kettensatz, eine halbe Lichtmaschine und das Unterteil von einem alten Mixer – „Ersatzmotor für Mutige“.

Der Fund des Tages ist ein abgerissener Fahrradantrieb mit drei Pedalen – niemand weiß warum, aber es fühlt sich wichtig an.
Eigentlich wären wir damit voll. Aber dann – am Rand – entdecken wir noch einen verbeulten Tretroller, ein Set verchromter Lenkergriffe und eine Werkzeugkiste mit halb durchgerostetem Schloss.
Zu viel für uns drei.

Und dann, wie bestellt: Die Straßenratten vom Samstag sitzen wieder da – auf der Lauer, mit leerem Magen und gespitzten Ohren.

„Ihr habt was dabei?“
„Mehr als genug.“
„Dann tragen wir’s – gegen ’n anständiges Abendessen.“

Niemand widerspricht. Wollmütze wirft ihnen eine Fischgräte zu, Dreizahn nickt feierlich. Gemeinsam schleppen wir den Rest in den Sammelbereich – und weil wir jetzt mehr Pfoten haben, nehmen wir alles mit.

Der Platz ist kaum wiederzuerkennen: Schrottberge, sortiert nach Wahnsinnsgrad. Ramona, das Skelett, hat mittlerweile eine Krone aus Flaschenverschlüssen.
Pandora sitzt daneben und schraubt schweigend an irgendwas, das aussieht wie ein Gabelkopf aus einem alten Schaukelstuhl.

Ich leg die Lichtmaschine ab, zieh tief Luft durch die Nase – und sage:

„Okay. Jetzt reicht’s. Wenn wir morgen nix bauen können, sind wir zu blöd für die Gosse.“

Kapitel 5: Der Bau beginnt

Am Montagmorgen roch die Gosse nach Schmieröl, kalten Dosenresten und ehrgeiziger Selbstüberschätzung.
Der Schrottberg neben der Brücke wirkte wie das Endlevel eines schlecht gepflegten Open-World-Spiels: chaotisch, blinkend und voller Möglichkeiten.

Ramona, das Plastikskelett mit Zielscheibe, thronte über allem. Ihre Flaschenverschluss-Krone saß schief, aber königlich.
Die drei Leopardgeckos standen auf dem Biertisch wie Generäle vor einer kaputten Weltkarte.

„Alles klar“, sagte Glenda. „Jetzt bauen wir Bikes. Oder sterben bei dem Versuch.“
Pandora hob eine rostige Mutter in die Luft. Crest schnippste sie weg, weil sie nicht symmetrisch war.

Hinter ihnen türmten sich Thermoskannen, Kühlschranktüren, Lenker, Reifen, Benzinkanister, verklebte Werkzeugkoffer und etwas, das mal ein Schaukelstuhl gewesen sein könnte, nebst allem möglichem anderen Gerümpel.
Es gab keinen Bauplan. Nur Wahnsinn, Willen und Werkzeuge, die mehr durch Zufall als durch Funktion überzeugten.

Am Rand des Lagers tauchte er auf: Der schwarze Kater mit der Sonnenbrille, der schon beim Schrottsammeln kurz aufgetaucht war.
Er stellte sich nicht als „Tommy“, „Smokey“ oder „Shadow“ vor – das wäre zu billig gewesen. Stattdessen sah er sich um, schlich an Ramona vorbei, deutete mit der Pfote auf das Chaos und sagte nur:
„Nennt mich Kupplung. Ich schau mir an, wie ihr tickt.“

Und so begannen sie zu bauen – vier Tage, zehn Tiere, ein Ziel:
Fertige Chaos-Bikes bis zum Festival. Oder eine glorreiche Implosion.

Montag

Daggi erzählt:

Montagmorgen. Die Sonne schiebt sich über den Horizont, als hätte sie gestern zu tief ins Altöl geguckt.
Überall liegt Schrott. Überall liegen Hoffnungen. Und mittendrin: drei Geckos mit Plänen, die nach Explosionen riechen.

Ich hätte schlafen können. Stattdessen stehe ich hier und beobachte, wie Glenda, Crest und Pandora aus rostigen Legenden fahrbare Widersprüche machen.

Glenda fängt an. „Meins kriegt Stacheln“, sagt sie.
Sie zieht sich einen alten Fahrradrahmen, den Rollatorlenker von gestern, zwei halbwegs runde Reifen und den Bürostuhl, der gestern als Sitzfigur-Ablage diente.
Pandora reicht ihr die Schrauben, ich geb ihr ein rostiges Multitool, das aussieht wie ein ausklappbarer Selbstmordversuch.

Der Motor? Ein zerlegter Mopedantrieb, kombiniert mit einem alten Rasenmäherstarter, der nur funktioniert, wenn man ihn im richtigen Ton anschreit.
Crest montiert die Zündung mit zwei Gummihandschuhen. Glenda nimmt einen Rückspiegel und schraubt ihn so an, dass er direkt auf ihre Mittelkralle zeigt.

„Das ist Kunst“, sagt sie.
„Das ist fahrlässig“, sag ich.
„Das ist meins“, sagt sie. Und grinst.

Crest ist der Nächste. Er spricht nicht viel – nur seine Pfoten reden.
Er nimmt einen Grillrost vom Sammelberg, montiert ihn seitlich an seinen Rahmen und ruft: „Luftkühlung.“
Dann zieht er eine verkabelte Lichtmaschine ran, baut sie auf einen dreirädrigen Rollgestellrahmen und ergänzt alles mit einer Teppichrolle als Stoßdämpfer. Keine Ahnung, ob das funktioniert – aber es sieht nach Kunstinstallation mit Todesfolge aus.

Der Motor kommt aus einem alten Mixer, den wir gestern gefunden haben – angeschlossen an eine halbe Autobatterie. Der Sound ist irgendwo zwischen Zahnarztbohrer und Schreitherapie.

Als er fertig ist, steht das Ding da wie ein technologisches Missverständnis mit Stil.
„Das lebt“, murmelt Pandora.
„Das lacht uns aus“, sag ich.
„Das reicht“, sagt Crest. Und macht ein Foto – in seinem Kopf.

Pandora ist die Letzte heute. Sie sagt nichts, aber ihre Augen sprechen Vandalismus.
Sie zieht sich ein altes Mopedgerüst, kombiniert es mit der Gabel aus dem Schaukelstuhl, an dem sie gestern schon rumgefummelt hat, und nutzt die Badewannenkette als Gaspedalverbindung.
Der Sitz? Ausgestopft mit Teppichfetzen, verklebt mit Panzerband. Und ja – sie schneidet einen Luftschlitz in den Tankdeckel, „wegen Stil“.

Der Motor stammt aus der alten Werkzeugkiste – ein zerlegter E-Rollermotor, gepaart mit einem Rest Gasflasche von Samstag. Crest hilft beim Zünden, ich streue Katzenstreu auf das, was qualmt.

Sie startet. Einmal. Zweimal. Dann röhrt es. Tief. Nass. Wütend.
Pandora fährt drei Meter, steigt ab – und geht wortlos weg.

„Ihr Bike hat mehr Persönlichkeit als ich“, sagt Crest.
„Ihr Bike hat schlechte Laune“, sag ich.
„Ich mag’s“, sagt Glenda.

Am Rand steht der Kater mit der Sonnenbrille. Kupplung.
Er beobachtet. Nichts schreibt er auf.
„Musst du nicht helfen?“ frag ich.
„Ich seh lieber, wie ihr’s verkackt“, sagt er. Und lächelt.

Drei Bikes. Drei Tiere. Drei fahrbare Katastrophen.
Und das war nur Tag eins.

Dienstag

Wojtek erzählt:

Ich hab kaum geschlafen. Irgendwas in der Nacht hat geknackt. Vielleicht Holz. Vielleicht ein Code. Vielleicht ein Gedanke.
Als ich wach werde, ist es Dienstag. Und das bedeutet: Ich baue mein Bike. Und Zlatka baut ihres. Und alle anderen stören.

Als ich zur Brücke komme hockt Zlatka schon in einer Ecke, den Panzer an eine rostige Werkzeugkiste gelehnt. Vor sich das Funkgerät, das sie seit Anbeginn dieser Apokalypse mit sich rumschleppt. Keiner weiß, ob es Empfang hat. Oder mit wem. Aber sie spricht damit. Flüstert rein. Manchmal lacht sie.
Ich tu einfach so, als wär das normal.

Ich hab meinen Schrott vom Samstag sortiert. Der Kühlschrank aus dem Industriegebiet? Meiner.
Ein verbogener Rollerrahmen lag gleich daneben – mit drei Drahtspulen, 2 Fahrradrädern und einem halb zerschmolzenen Steckdosenadapter.
Als Dämmung nehm ich eine der Teppichrollen, die wir da auch rausgezerrt haben. Hat irgendwer liegen lassen, wahrscheinlich weil sie nach Diesel gerochen hat. Idioten.

Der Motor? Ich hab den Rasenmäherantrieb genommen, den wir auf dem Rückweg entdeckt haben – stand hinter einem demolierten Verkaufswagen, eingeklemmt zwischen zwei Einkaufswägen voller Plunder. Die Klinge hab ich rausgeschraubt. Sicherheitsmaßnahme.
Die Gasflasche von Samstag – die mit dem verformten Anschluss – montier ich daneben. Ich schraub alles selbst. Keine Pfote außer meiner darf das Ding berühren.

Glenda nennt mein Bike „Müllschrank auf Speed“. Pandora nennt es „Ein fahrbares Trauma“.
Ich nenne es Wojtek-Mobil. Und ja, ich hab das mit Edding auf den Kühlschrank geschrieben. In Druckbuchstaben.

Zlatka ist still wie immer, aber produktiv. Sie hat zwei ungleiche Räder, einen halben Rollatorlenker und ein paar verschraubte Ofenteile, die sie am Donnerstag aus einem Haufen Getränkekisten und Blech gezogen hat.
Ihr Funkgerät – direkt am Sattel montiert – blinkt, obwohl keiner es angeschaltet hat. Ich sag nichts. Ich will nicht, dass es mich sieht.

Ihr Antrieb besteht aus einer Lichtmaschine, die Glenda am Donnerstag angeschleppt hat, einem Batteriemodul aus demselben Bereich und Solarzellen aus einer kaputten Gartenleuchte.
Sie sagt, es läuft nur, wenn man wegsieht. Also gucken wir nicht hin. Und es funktioniert.
Sie fährt im Kreis, dreht dann eine langsame Schleife um Ramona und bleibt exakt vor Kupplung stehen.

„Übertragung stabil“, sagt sie.
Kupplung nickt.
Ich schnaube. Das kann nicht gesund sein.

Ich setz mich auf mein Bike, dreh den Starter. Der Motor röhrt wie ein verrosteter Staubsauger mit Todessehnsucht. Es fährt. Drei Meter. Dann bockt es, weil ich vergessen hab, den Kühlschrankboden rauszunehmen. Ich steig ab, notiere das im Kopf, und setz mich daneben.
„Läuft“, sag ich.
Niemand widerspricht.

Zwei neue Bikes. Zwei seltsame Fahrer.
Und null Explosionen. Noch.

Mittwoch

Elfi erzählt:

Ich hab heute den ersten Schraubenschlüssel in einen rostigen Kanister geschmissen, nur um meinen Punkt zu machen.
Der Punkt war: Ich bin wach. Und ich baue heute mein Bike. Und das wird lauter, greller und geiler als alles, was die anderen hier bisher zusammengetackert haben.

Benny hat sein Werkzeug sortiert. In Farbreihenfolge. Milena hat sich einen Bauskizzenplan auf ein Stück Pappe gekritzelt. Und ich? Ich hab mich auf ein umgedrehtes Bierfass gesetzt und geschrien, bis jemand mir die verdammten Reifen gebracht hat.

Mein Rahmen? Ein altes Klapprad, das Benny am Sonntag aus dem Technikmüll gezogen hat. Ich hab’s ihm abgequatscht. Der Lenker ist ein verbogener Einkaufswagengriff, den Pandora am Freitag gefunden hat. Der Sitz? Ein Autopolster mit drei Lagen Klebeband drumrum – das lag seit Samstag neben dem alten Wohnwagen-Schrott. Riecht wie nasser Hund mit Senf.

Mein Motor ist der überzählige Mixerblock, den Crest Montag aussortiert hat – kombiniert mit der kleinen Lichtmaschine, die Glenda ursprünglich Montag zur Seite gelegt hatte, weil sie „komisch geguckt“ hat. Ich hab sie genommen. Jetzt guckt sie nicht mehr.
Kupplung meinte: „Das könnte funktionieren.“
Ich hab geantwortet: „Ich funktionier auch nur so halb – passt also.“

Milena war als Nächstes dran. Sie hat sich zwei brauchbare Räder aus dem Freitagssortiment geschnappt – die standen neben dem Schrank, wo Elfi (also ich!) den ganzen Werkzeugkram drauf gestapelt hatte. Ihr Rahmen ist eine wilde Mischung aus einem alten Rasenstuhlgestell und einer krummgebogenen Duschstange, die Glenda Montag übersehen hatte.

Der Motor? Ein fragmentierter E-Scooter-Antrieb, den Branko am Samstag mitgeschleift hat, dazu ein verkabelter Föhn, den Pandora irgendwann aus einem Altglascontainer gezogen hatte.
Das Ding macht beim Starten das Geräusch einer beleidigten Teekanne mit Höhenangst – aber hey, es fährt.

Benny, unser kleiner Technik-Igel, blieb wie immer cool. Zwei ungleiche Räder, die niemand wollte – klar, dass er sie nimmt. „Perfekt fürs Kurvenverhalten“, hat er gesagt.
Sein Rahmen? Ein Teil eines alten Trampolingestells, das seit Samstag hinter Ramona lag und das niemand angefasst hat, weil es nach Rost und Katzenurin roch. Benny hat’s sauber gemacht. Wahrscheinlich mit Zahnbürste.

Motorisiert hat er sein Chaosmobil mit einem selbstgebauten Akkuschrauberblock aus einem vergessenen Werkzeugkasten von Freitag. Die Kühlung läuft über eine aufgeschnittene Thermoskanne – die, die Wojtek Samstag angeschleppt hat.
Kupplung hat das Ding angeschaut und gesagt: „Du bist irre.“
Benny hat gegrinst. „Danke.“

Am Ende des Tages stehen drei neue Bikes:
Eins schreit, eins zischt, eins summt.
Ich bin stolz auf uns. Auch wenn mein Ohr pfeift.

Donnerstag

Kupplung erzählt:

Der Morgen beginnt wie der letzte Schluck aus einer warmen Bierdose: blechern, bitter, unausweichlich. Zwei Bikes fehlen noch. Daggi und Branko stehen an. Und danach… bin ich dran. Nicht zum Bauen. Zum Verwandeln.

Daggi brummt sich wach, flucht beim Schrauben, beißt in ein Stück alten Toast, das sie als Schraubenhalter benutzt. Ihr Rahmen ist krumm, ihr Blick gerade.
Sie zieht zwei gleich große Reifen aus einem Haufen Blech, benutzt ein Stück Gitterzaun als Tankabdeckung und verlegt Benzinschläuche, als wär’s Nähgarn.
Der Motor? Ein Laubbläserkopf, kombiniert mit einem Hochdruckreiniger vom Freitag. Das Teil klingt wie ’ne Wutrede in Maschinenform.

Branko ist langsam. Methodisch. Sein Rahmen ist ein abgesägtes Metallregal, die Gabel stammt aus einem Dachrinnenfund vom Sonntag. Lenker? Brechstange. Sitz? Ein gepolsterter Farbeimerdeckel mit Kordelzug.
Der Motor stammt aus einer verkabelten Generator-Bohrmaschinen-Kombi, die er selbst angepasst hat – mit so viel Konzentration, dass niemand wagt zu stören.

Am Ende des Nachmittags stehen sie da. Zehn Bikes. Alle fahrbereit. Alle… fast.

Jetzt komm ich. Kupplung.
Ich setze meine Brille ab und putze die Gläser an meinem Fell sauber, dann kommt sie wider auf die Nase. Niemand hat je meine Augen gesehen – und das bleibt auch so.
Ich sag nichts. Ich bewege mich langsam, aber gezielt. Die anderen sitzen im Halbrund, schwitzen, glotzen, schweigen.
Ich geh von Bike zu Bike.

Aus meiner Tasche zieh ich ein schwarzes Tuch, darin eingewickelt: Drahtstücke, Splitter von alten Zahnrädern, etwas, das mal Teil eines Funkchips war, und ein dünnes Kästchen, das nie jemand hat blinken sehen.
Ich murmel keine Worte. Ich flüstere Protokolle. Alte Codes. Mechanikformeln, die aus keinem Buch stammen.

Beim ersten Bike zieht sich die Kette plötzlich straffer. Beim zweiten leuchtet kurz ein Rücklicht auf – obwohl kein Strom anliegt. Beim dritten bewegt sich der Lenker leicht, als würde er sich selbst justieren.
Ich schraube kaum. Ich berühre. Und sie verändern sich.
Nicht zu etwas Neuem – sondern zu dem, was sie schon waren, nur… verborgen.

Ein schwarzer Funke springt bei Elfi über den Tank. Zlatkas Funkgerät flackert einmal kurz, obwohl es aus ist. Wojteks Kühlschrankbike brummt – aber nicht mechanisch, sondern wie ein Tier, das kurz träumt.

Glenda kneift die Augen zusammen. Pandora sagt nichts. Crest beobachtet – und nickt.
Sie wissen es nicht. Aber sie spüren es.

Als ich fertig bin, sind es keine Bastelobjekte mehr. Es sind Maschinen. Persönliche. Gefährliche.
Eins schreit. Eins flüstert. Eins summt. Eins wirkt, als würde es dich anspringen, wenn du es falsch anschaust.

Ich drehe mich zu ihnen. „Ihr dachtet, ihr habt was gebaut.“
Ich sehe sie alle an.
„Aber was ihr wirklich getan habt: Ihr habt euch selbst da reingeschraubt. Eure Erinnerungen. Eure Macken. Eure Fehler. Eure Wut. Eure verdammte Hoffnung.“

Ich deute auf die Bikes. „Ich hab’s nur befreit.“
Und keiner sagt was. Muss auch keiner. Sie wissen’s.
Die Dinger fahren. Nicht weil sie fertig sind. Sondern weil sie jetzt sie selbst sind.

Die Sonne geht unter. Alle liegen rum wie erledigte Schraubenzieher. Benny schnarcht mit offenem Maul auf einer Werkzeugkiste. Pandora döst im Sitzen. Elfi summt was Schräges. Zlatka tippt blind auf ihr Funkgerät. Milena kaut mechanisch auf einem Restbrot.
Glenda schaut in den Himmel, als wär der auch nur ein weiteres Blechstück zum Anbohren.

„Wann geht’s morgen los?“ fragt Branko.
„Wenn’s knallt“, sagt Daggi.
„Wenn keiner kotzt“, murmelt Wojtek.
„Wenn die Bikes schreien“, sagt Elfi.
„Wenn der Funk antwortet“, meint Zlatka.

Ich sag nichts. Nur ein Nicken. Ein Knacken in meinem Nacken. Und ein letzter Blick auf die zehn Maschinen.

Sie sind bereit. Und der Weg liegt vor den 10.
Jetzt gibt’s Ravioli. Und morgen: die Straße für sie.

Kapitel 6: Das Festival-Wochenende

Freitag

Glenda erzählt:

Es ist früher, als es irgendwas mit Vernunft zu tun hätte. Die Sonne kratzt gerade am Horizont, als wär sie selbst verkatert. Und wir? Wir stehen da. Zehn Bikes. Zehn Idioten. Und die Straße vor uns wie eine Herausforderung mit miesem Atem.

Der Motor von Bennys Chaosmobil schnurrt wie eine aufgestachelte Bohrmaschine. Zlatkas Funkgerät zirpt, obwohl niemand es eingeschaltet hat. Daggi hat ihre Maschine angeworfen, ohne jemals zu erklären, wie sie sie überhaupt wieder ausschaltet.
Ich sitze auf meinem Bike, drehe leicht am Gas und spüre das Vibrieren bis in die Hirnreste, die ich noch nicht weggesoffen hab.

Kupplung steht ein paar Meter abseits, auf dem Bordstein, Sonnenbrille auf der Nase, keinen Ausdruck im Gesicht.
Er sagt nichts. Er hat uns schon gestern alles gesagt, was gesagt werden musste.
Trotzdem schielt jeder kurz zu ihm rüber. Als würde irgendwer erwarten, dass er plötzlich doch mitfährt.
Tut er nicht.
Und trotzdem wünschen es sich vielleicht mehr von uns, als wir zugeben würden.

„Dann also los“, sage ich.
Crest hebt die Faust.
„Wohin nochmal?“ fragt Branko.
„Eifel“, sagt Pandora.
„Festival. Dosenbier. Freibühne. Irgendwo bei Kilometer siebentausend und Dreck“, fügt Benny hinzu.

Die Bikes röhren. Klackern. Heulen. Starten in wilder Reihenfolge, wie eine Parade der kaputten Träume.
Ich fahre vorne. Natürlich. Anführerin der Gossen-Geckos. Wer sonst.
Neben mir Crest, mit wehendem Mantel und dem Ausdruck eines musikalischen Serienfehlstarts. Pandora hinter uns, das Gesicht halb verhüllt, die Augen wach wie eine Katze beim Diebstahl.

Dann die anderen. Benny, Zlatka, Milena, Branko, Wojtek, Elfi und Daggi – die sich weigert, in einer Formation zu fahren und stattdessen immer wieder über den Randstein brettert.
Zlatka sendet. Vielleicht. Keiner weiß wohin. Vielleicht an die Straße. Vielleicht an das Chaos. Vielleicht an Kupplung.

Hinter uns liegt die Brücke. Vor uns liegt das Wochenende.
Und wir?
Wir sind zehn aufgemotzte Schrottgeschichten mit Tankdeckel.

Und das reicht.

Die ersten Kilometer fühlen sich an wie eine Mischung aus Abenteuer, Schlagloch und „hoffentlich fällt kein Teil ab“.
Crest flucht über die Straßenverhältnisse, obwohl die Hälfte seiner Maschine aus losem Blech besteht. Benny erklärt während der Fahrt die Aerodynamik seines Helms. Elfi schreit abwechselnd Lieder und Beschimpfungen in den Fahrtwind. Und Zlatka murmelt Funkcodes, obwohl niemand zuhört – nicht mal das Funkgerät.

Wir fahren raus aus der Stadt, durch Vororte, Industriegebiete, über eine Brücke, die aussieht, als hätte sie schon bessere Jahre hinter sich und ein paar Sprengungen überlebt.
Ein handgemaltes Schild: „Festival – 3 km“. Darunter: ein Pfeil. Darunter: noch ein Pfeil. Darunter: ein leerer Bierkasten.

Als wir ankommen, ist es genau das, was wir erwartet haben. Nur dreckiger.
Ein altes Fabrikgelände, halb zugewachsen, mit rostigen Gerüsten, Kabeln, offenen Feuertonnen und Gestalten, die aussehen, als wären sie in derselben Gosse geboren wie wir.
Der Eintritt? Nicht existent. Nur ein Banner mit der Aufschrift: „25. FREIBIERRUNDE – KEIN EINLASS OHNE DURST“

Musik dröhnt aus einem Generator. Mal Metal, mal Folk, mal einfach nur Rückkopplung.
Ein Bierstand – tatsächlich frei. Jeder darf sich nehmen, was da ist. Wer fragt, kriegt ein „bedien dich halt“.
Daneben: Eine Wanne mit Eiswasser und Schnapsflaschen, eine improvisierte Bühne aus Europaletten und Kabelbindern, ein Zelt mit dem Schild „Tattoo & Tofu“, ein anderer Pavillon namens „Akustik vs. Alkohol“.

Wir rollen rein wie eine rostige Kavallerie. Unsere Bikes klappern, heulen, schreien.
Ein paar Festivalbesucher bleiben stehen. Einer ruft: „Heilige Scheisse, was sind das denn für Dinger?“
Pandora murmelt: „Familienerbstücke.“
Crest grinst nur.
Daggi parkt quer vor dem Bierfass. Zlatka manövriert sich zwischen zwei Antennenschüsseln, „wegen Empfang“. Benny legt sein Werkzeug in den Schatten eines kaputten Wasserturms.
Branko baut aus Müllsäcken und Planen sofort ein behelfsmässiges Dach. Elfi schreit: „Das ist mein Platz, weil ich’s gesagt hab!“
Und damit ist das Schlaflager offiziell eröffnet, natürlich müssen wir jetzt probeliegen!

Unser Camp besteht aus zwei schiefen Pavillons, einer umgestülpten Badewanne, einer Plane, die über ein Wrack gespannt wurde, und einem alten Teppich, der aussieht, als hätte er Glitzer und Mord erlebt.
Milena faltet sich mit chirurgischer Präzision zwischen zwei Paletten. Ich selbst leg mich auf meine Jacke, die auf einer Eurogitterbox liegt.
Klingt mies? Ist es auch. Aber irgendwie auch perfekt.

Als die Sonne untergeht, sitzen wir vorm Pavillon, jede:r mit einer Dose Freibier.
Daggi säuft wie ein Profi. Crest hält seine Flasche so, als wär’s ein Mikrofon. Pandora lauscht. Wojtek misstraut allem. Benny zählt Funken.
Kupplung fehlt. Natürlich. Und trotzdem schauen ein paar von uns manchmal kurz zur Straße. Nur für den Fall.

„Das ist unser Wochenende“, sag ich.
„Noch“, murmelt Milena.
„Für immer“, lallt Elfi.

Und damit beginnt es wirklich.

Samstag

Crest erzählt:

Ich wache auf, weil jemand Chips frisst, als wären sie Lebensinhalt.
Es ist Elfi. Natürlich. Sie liegt auf einer zusammengefalteten Plane, umgeben von Dosen, Kabelbindern und einem Ghettoblaster, den sie als Kopfkissen benutzt.
Ich selber hab in der umgedrehten Badewanne geschlafen – halb drin, halb draußen, ganz falsch.

Frühstück: lauwarmer Tee, eine Dose mit Inhalt „grünlich“, trockenes Brot, das Branko irgendwo aufgetrieben hat, und ein paar Bierflakes mit Rum.
Pandora hat tatsächlich Brötchen organisiert – wie sie das gemacht hat, fragt niemand.
Wojtek schnüffelt misstrauisch an einem Joghurtbecher von gestern.
Daggi trinkt aus Prinzip erst Schnaps, bevor sie überhaupt spricht.
Ich respektiere das.

Nach dem Essen beginnt der Samstag offiziell – und zwar mit einem Wettbewerb namens „Wer kotzt zuerst, fliegt raus“.
Elfi ist Jury.
Milena macht nicht mit.
Benny stellt Messinstrumente auf.
Ich mach Musik.

Die Bühne ist heute belebt. Bands, Einzelpersonen, Betrunkene mit Rhythmusgefühl.
Da ist sie: die Elster. Die mit der Gitarre. Sauberer als wir, aber trotzdem irgendwie passend. Sie beobachtet alles.
Ich frag nicht. Ich zeig nur auf das Instrument.
Sie gibt’s mir, als wär’s abgesprochen.
Ich geh rauf. Und spiel.
Nicht gut. Nicht schlecht. Einfach… ehrlich.

Meine Lieder handeln von uns, vom Rost, vom Lärm.
Zlatka hält das Funkgerät wie ein Feuerzeug.
Elfi ruft „Spiel was mit Wumms!“
Pandora nickt.
Die Elster schaut nicht, aber sie hört.

Nach dem Auftritt geb ich die Gitarre zurück.
„Sie hat überlebt.“
Sie nickt. „Du auch. Beinahe.“

Der Rest des Tages wird… verschwommen.

Wettkämpfe mit Einkaufswagen.
Ein Tattoo-Stand mit dem Motto „Blind ist Bindung“.
Benny lässt sich eine Platine auf den Unterarm tätowieren.
Wojtek gewinnt beim Wettbewerb „Grill oder Granate?“ – was auch immer das war.
Milena trinkt jemanden unter den Tisch, dann den Tisch selbst.
Daggi streitet sich mit einem Betrunkenen, der glaubt, ihre Maschine sei ein Staubsauger auf Rädern.
Branko verkauft selbstgebastelte Schlüsselanhänger aus Draht und kaputten Zahnrädern. Für Bier.

Ich verliere irgendwann den Überblick.
Aber nicht den Halt. Noch nicht.

Am Abend sitz ich bei Pandora. Sie zählt Flaschendeckel.
„Warst du gut?“
„Ich war… Festival.“
Sie reicht mir eine Dose. Ich trink.
Und für einen Moment… sind wir einfach nur da.
Und das reicht.

Sonntag

Pandora erzählt:

Ich wache auf mit einem Schädel wie ein leerer Benzintank nach der Apokalypse.
Branko liegt zwischen ein paar alten Jacken, schnarcht leise und kaut dabei auf einem Plastikdeckel.
Elfi hat sich unter eine Plane gekuschelt, die bei jedem Atemzug raschelt.
Crest liegt quer über einer Bank, mit offenem Maul und geschlossenen Augen – eine Skulptur namens „Kater des Jahrhunderts“.
Ich krabbel aus meinem Nest und trete gegen eine leere Dose. Es klingt wie Applaus.

Frühstück ist improvisierter Wahnsinn:
Milena verteilt auf dem Auspuff angeröstete Brötchenhälften.
Zlatka bringt ihre letzten Dosenreste.
Benny serviert Bierrummflakes in einem aufgerissenen Joghurtbecher.
Glenda kaut auf einer Semmel, als wär’s Rache.
Daggi kippt Pfeffer in ihren Tee und nennt das „Verdauungstreibstoff“.
Branko sortiert Gabeln.
Ich find ’ne alte Banane. Sie ist matschig. Ich ess sie trotzdem, obwohl sie sich wehrt.
Stil ist, was man draus macht.

Dann passiert’s. Ohne Absprache. Einfach so.
Unsere letzte Show.

Glenda fährt Kreise um eine brennende Mülltonne.
Crest fährt im Stehen, wacklig, aber stolz.
Daggi springt über zwei Bierbänke, verfehlt fast, lacht trotzdem.
Milena zieht rückwärts durch die Staubwolke wie ein Geist auf zwei Rädern.
Zlatka sendet Töne übers Funkgerät – keiner versteht sie, alle feiern sie.
Elfi fliegt fast über einen Kantholzstapel, landet aber auf zwei Rädern.
Benny driftet quer über die Bühne, Funken sprühend.
Branko schleudert sein Bike um eine Kurve, schreit „Wissenschaft!“
Ich knall im Slalom durch die Gäste und Zelte, schnapp mir im Vorbeifahren eine flatternde Tüte.
Die Menge jubelt. Wir nicken nur.

Dann kommen sie.
Frösche. Leder. Glitzer. Waschmaschinentrommelhelme auf den Köpfen.
Sie sehen aus wie das Ende einer Punkband – oder ihr Anfang.

„Ihr seid gut“, sagt einer.
„Aber ihr seht aus wie Einzelteile. Wir haben was für euch.“

Zehn Outfits, zehn Stile, ein Ziel: Zusammengehörigkeit.
Jedes Outfit trägt unseren Namen:
Asphaltgeister – gesprüht, geschmiert, hastig auf die Klamotten gekrakelt.

Glenda trägt jetzt einen Mantel mit Ketten und Nieten.
Crest eine zerschlissene Weste mit Schraubendekor.
Ich hab ’ne Jacke mit Dosenverschlussärmeln.
Daggi rockt eine Kutte mit „100 % Antisympathie“ drauf.
Zlatka trägt einen Umhang mit eingebauter Funkgerätetasche.
Elfi steckt im Werkzeugoverall.
Benny blinkt im Netzhemd mit LED-Leisten über Laborkittel.
Milena trägt Symbolflicken wie Kriegsnarben.
Wojtek glitzert in Isolierfolie.
Branko? Hose mit Drahtapplikationen und ein Grinsen. Passt.

Dann starten wir.
Rückfahrt. Kein Heimweg – Triumphzug.
Durch Tunnel, über Schotter, an Tankstellen vorbei, deren Besitzer keine Ahnung haben, was da grad vorbeifährt.

Als wir ankommen, steht Kupplung an der Brücke.
Er sagt nichts.
Wir auch nicht.
Aber wir nicken – und er nickt zurück.
Das ist alles, was zählt.

Wir steigen ab.
Einige sitzen noch kurz da. Andere strecken die Beine, rauchen, schweigen.
Und dann – langsam, wortlos – zieht jeder von uns los.
Zurück in seine Ecke, sein Revier, seinen Schrottpalast.

Keiner sagt „Tschüss“.
Aber alle wissen: Das war nicht das Ende.

Und wenn sie nicht gesoffen haben, dann schrauben sie noch heute.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

kroetenboss.ch – Gebaut mit Herz, Humor und Heavymetal. Wenn du das hier liest, bist du ganz unten angekommen.