Die Tür vom LKW fiel zu. Schwer. Dumpf. Endgültig. In dem Moment spürte ich, wie etwas in mir mit einem lauten Knall zerbrach. Etwas, das man bis heute nicht hat flicken können.
Ein Geräusch, das ich nie vergessen werde.
Perry schnurrte nicht. Atlan miaute nicht.
Wir sagten nichts.
Aber wir alle wussten, was dieser Moment bedeutete: Es war vorbei.
Ramon, mein Mitbewohner, war schon vorher gegangen.
Er hatte gesagt, er könne das nicht mitansehen – diesen Abschied.
Dass es ihn zerreißen würde.
Und ich glaubte ihm jedes Wort.
Seine Augen waren voller Tränen, als wir uns das letzte Mal umarmten.
Perry hatte sich an seine Beine gedrückt, als wüsste er genau, dass das das Ende war.
Aber Ramon blieb. Und wir mussten gehen.
Meine Freunde halfen mir, Perry und Atlan in die Transportboxen zu setzen.
Ich funktionierte nur noch.
Der Motor sprang an, ich fuhr los – durch Oberwil, vorbei an allem, was mir etwas bedeutete.
Es war nicht einfach ein Umzug.
Es war das Ende eines Lebensabschnitts.
Ich ließ ein Zuhause zurück. Ramon. Sicherheit. Und ein Stück von mir.
Perry & Ramon – mehr als Freundschaft
Zwischen Perry und Ramon bestand etwas, das sich mit Worten kaum beschreiben lässt.
Es war nicht nur Zuneigung – es war eine stille, tiefe Verbundenheit.
Perry war kein Kater, der sich jedem gleich öffnete. Er hatte seine Würde, seinen Eigensinn, seine ganz eigene Art von Nähe.
Aber bei Ramon? Da war er weich. Offen. Anhänglich.
Wenn Ramon nach Hause kam, war Perry oft der Erste an der Tür.
Er folgte ihm von Raum zu Raum, lag auf seinen Sachen, schlief mit ihm im Bett – eingerollt wie ein kleiner Schatten mit Herz.
Ramon nannte ihn liebevoll „mein kleiner Pfeil“ – ein Spitzname, der bis heute in meinem Ohr nachklingt.
Und Ramon… er liebte ihn mindestens genauso.
Er verstand ihn. Redete mit ihm, als sei er ein alter Freund. Und behandelte ihn auch so.
Vielleicht war das der schwerste Teil an diesem Abschied.
Nicht nur ich verlor Ramon.
Sondern auch Perry. Und er konnte es nicht verstehen.
Ich erinnere mich, wie er nach der Rückkehr tagelang durch die neue Wohnung schlich – leise, suchend, irgendwie verloren.
Er hat ihn vermisst. So wie ich.
Warum ich gehen musste
Ich war in der Schweiz, weil ich dort gearbeitet habe.
Mein Aufenthaltsrecht hing an dieser Firma.
Und als die Firma pleiteging, verlor ich alles auf einmal:
meinen Job, mein Bleiberecht – und damit meine Heimat.
Ich hatte keine Wahl.
Es war kein Abschied, den ich wollte.
Es war ein bürokratischer Rauswurf aus meinem Leben.
Ein erstes Mal in der Schweiz – und wie ich daheim ankam
Ich war auf der Fahrt aufgeregt, keine Frage – aber nicht so, wie man es vielleicht erwarten würde. Ich wusste, dass dieser Moment wichtig war und dass hier etwas passieren würde, ich hatte jedoch keinen blassen Schimmer was und wie nachhaltig es mich, meine Denkweise und mein Leben verändern würde. Also schnappte ich mir meinen Rucksack, stieg ganz normal aus dem Zug am Basel SBB und betrat den Bahnsteig. Doch als mein Fuß den Boden berührte und ich mich umsah, überrollte mich plötzlich ein Gefühl, das ich nicht erwartet hatte: Heimat. Es war wie ein emotionaler Roundhouse Kick, der mich völlig unvorbereitet traf. Da stand ich also, ganz normal, aber innerlich wusste ich plötzlich: Ich gehöre hierhin.
Und dann, genau in diesem Moment, kam Ramon. Die Umarmung, mit der er mich begrüßte, war wie das Tüpfelchen auf dem i. Es war so viel mehr als nur eine Begrüßung. Es fühlte sich an, als hätte ich endlich den Schlüssel für die Haustür des Herzens gefunden. Diese Umarmung – völlig unerwartet – verstärkte das Gefühl, dass ich hier wirklich angekommen war.
Wir fuhren zu seiner Wohnung, wo ich meine Sachen abstellte. Ich stand dort, der Rucksack lag auf dem Boden, und obwohl ich alles erledigte, war ich geistig völlig überladen von der ganzen Verarbeitung. Es war so viel auf einmal, aber ich wusste, dass das der Anfang von etwas Neuem war. Das war der erste Schritt – und er fühlte sich richtig an.
Bevor ich mich der Wohnungssuche und dem ganzen anderen Kram widmete, musste ich natürlich erstmal das Basler Nachtleben ausprobieren – und das ganz unstilecht. Das erste Gericht in Basel war ein Döner. Ja, richtig gelesen, ein Döner. Dazu eine Flasche Rivella, das ich bis heute abgöttisch liebe und mit diesem Moment verbinde. Nicht, dass ich damit einen kulinarischen Kulturschock erlebte, aber es war einfach die schnelle, unkomplizierte Wahl, die nach dem Zugfahren am meisten Sinn ergab. Immerhin konnte man den Döner auch gut mitnehmen, falls der Abend noch länger werden sollte.
Am nächsten Tag stand dann das Bewerbungsgespräch an. Die Anspannung war da, aber auch die Neugier – es war ein komisches Gefühl, in der Schweiz zu sein und hier um einen Job zu kämpfen. Doch das Gespräch verlief super, und ich fühlte mich selbstsicherer als erwartet. Schon währenddessen begann ich, mir vorzustellen, was passieren würde, wenn ich hierbleiben würde. Und das war der Moment, in dem ich die Entscheidung zu treffen begann: Was, wenn ich mit Ramon zusammenziehe? Es war nicht nur ein einfacher Gedanke, es war eher ein Impuls – ein Gefühl, dass das jetzt der richtige Schritt war.
Und so begannen wir, nach einer Wohnung zu suchen. Es war keine spontane Entscheidung, sondern eine, die sich langsam entwickelte, mit jedem Gespräch und jeder Entscheidung, die wir trafen. Die Wohnungssuche verlief nicht ganz so einfach wie erhofft, aber am Ende fanden wir eine in Oberwil BL, die perfekt zu uns passte. Oberwil BL liegt im Halbkanton Basel Land, weswegen ich häufig Basel als Überbegriff gebrauche. Die Vorstellung, dass wir bald gemeinsam unter einem Dach leben würden, wurde immer realer. Es war der Beginn eines neuen Kapitels.
Zurück nach Deutschland und der Umzug in unsere neue Wohnung
Die Woche, in der ich zurück nach Deutschland fuhr, war eine Mischung aus Vorfreude und Heimweh. Ich hatte noch einiges zu erledigen – Dokumente besorgen, die Einfuhr der Katzen mit dem Zoll regeln, die letzten Sachen packen und natürlich Perry und Atlan zu holen, die in Deutschland, behütet von einem guten Freund, auf mich warteten. Während ich ein letztes mal dort war, kamen die Möbel für unsere neue Wohnung in Basel bereits an. Ich freute mich riesig, weil ich wusste, dass ich bald wieder zurück in die Schweiz konnte. Doch gleichzeitig merkte ich, wie sehr ich das Leben dort und die neue Wohnung vermisste. Es war, als würde ich zwischen zwei Welten kleben bleiben.
Als ich endlich alles erledigt hatte, packte ich Perry und Atlan ein und fuhr nach Basel. Ramon holte uns am Bahnhof ab. Wir dachten, wir könnten mit der Tram fahren, aber als wir feststellten, dass es mit dem vielen Gepäck zu schwierig werden würde, entschieden wir uns spontan, mit dem Taxi nach Hause zu fahren. Doch der Moment, als Ramon uns am überfüllten Bahnhof begrüßte, war einzigartig. Als er sich über das Gitter der Transportbox beugte und die Katzen neugierig an ihm schnüffelten, war es sofort klar: Er hatte sich direkt in Perry verliebt. Genauso wie Perry sich in ihn verliebte. Es war, als hätten sie sich auf Anhieb verstanden, als wäre es das Natürlichste der Welt. Diese Begegnung war der Beginn von etwas Neuem, von einem Leben zu viert, das jetzt begann.
Nachdem wir die Entscheidung getroffen hatten, ins Taxi zu steigen, fuhren wir gemeinsam zu unserer neuen Wohnung. Die Möbel waren, wie bereits erwähnt, schon in der Zeit meiner abwesenheit angekommen, alles war vorbereitet. Als wir dort ankamen, fühlte es sich endgültig an. Ein neues Zuhause, ein neues Leben – mit Ramon, Perry, Atlan und mir.
Sprache, Heimat, Alltag – wie ich Schweizer wurde
Was viele nicht wissen: Ich spreche fließend Schweizerdeutsch. Zuger Dialekt, mit Einschlägen aus anderen Regionen – ganz automatisch, weil ich ihn im Alltag gelernt habe. Nicht aus einem Lehrbuch, sondern durch Ramon. Durch Gespräche, durchs Leben, durch Zuhören – und weil ich dazugehört habe.
Ich liebe Schweizerdeutsch mehr als Hochdeutsch. Der Klang ist für mich schöner, melodischer – vertrauter. Wenn ich Menschen zum Spaß fragte, woher sie denken, dass ich komme, nannten sie alles Mögliche: Zürich, Luzern, Aargau, Basel – aber nie Deutschland. Ich war integriert. Nicht nur bürokratisch, sondern kulturell, sprachlich, menschlich – besser als je zuvor im Land, in dem ich geboren wurde.
Gelernt habe ich auch durchs Schauen. Besonders mit einer Serie: Fascht e Familie. Ramon und ich haben sie abends auf dem kleinen Balkon an der Küche geschaut. Nach der Arbeit, bei Dampf aus dem Vaporizer, während die Serie über unsere Boombox lief. Ich hatte das Handy in der Hand und beschrieb Ramon – der komplett blind ist – die Szenen, wann immer es nötig war. Kein großes Tamtam – nur wir zwei, Sprache, Lachen, Alltag. So hab ich Schweizerdeutsch gelernt. So hab ich mich zu Hause gefühlt.
Eine Serie wie mein eigenes Leben: „Fascht e Familie“
Fascht e Familie ist eine Schweizer Kult-Sitcom, produziert von 1994 bis 1999. Sie spielt in Zürich-Oerlikon und erzählt auf herrlich schrullige Weise, wie durch eine Zeitungsanzeige in der falschen Rubrik eine chaotisch-liebevolle WG entsteht.
Alles beginnt mit Rolf Aebersold (gespielt von Walter Andreas Müller), dem spekulativen Neffen der verwitweten Hausbesitzerin Martha Aebersold (Trudi Roth). Er will ihr Haus verkaufen – aber die Anzeige landet versehentlich unter „Zimmer zu vermieten“. Und so ziehen keine Kaufinteressenten ein, sondern WG-Suchende.
Martha, etwas esoterisch und warmherzig-chaotisch, nimmt die unerwarteten Gäste auf. Der WG-Alltag beginnt – zwischen Räucherstäbchen, Selbstfindung und Martas heimlicher Angst, ihr Haus an Rolf zu verlieren.
Mitbewohnerin Vreni (Sandra Moser) ist eine ordnungsliebende Bankangestellte mit messerscharfer Zunge und einer endlosen Reihe an scheiternden Männergeschichten. Ihre pragmatische, kontrollierte Art prallt regelmäßig auf Martas spirituellen Freigeist – Zündstoff für großartige Dialoge.
Hans Meier (Roland Ulli), der schüchterne Kellner mit großen Theaterträumen, zitiert Shakespeare, spielt Monologe mitten im WG-Alltag und sorgt mit seiner Mischung aus Pathos und Peinlichkeit für viele der besten Lacher.
Flipp (Martin Schenkel) ist ein entspannter Lebenskünstler, der in der Fußgängerzone illegal T-Shirts bemalt und mit seiner unbekümmerten Art ein echtes Gegengewicht zu Vreni und Hans bildet. Als ich schon wieder in Deutschland lebte, haben Ramon und ich einmal lange telefoniert – ich hatte ihm damals von meinem Coming-out als Transmann erzählt. Kurz darauf hat er mich in seinem Handy liebevoll als „Flipp“ eingespeichert – ein Wortspiel aus meinem Namen Filip und dieser Serienfigur. Es war seine Art zu sagen: „Ich seh dich. Und ich hab dich genauso gern.“
Nach seinem Serientod wird er durch Moritz (gespielt von Philippe Graber) ersetzt – kauzig, trocken, ein ganz anderer Typ, aber mit eigenem komischen Potenzial. Er ersetzt Flipp nicht, aber bringt auf seine Weise neue Energie ein.
Später zieht Annekäthi (Esther Gemsch) ein – eine Schwarze Schweizerin mit riesiger Klappe, trockenem Humor und sehr direkter Art. Aus meiner Sicht war sie witziger als Vreni, brachte frischen Wind und ordentlich Leben in die Bude, ohne die Balance zu stören.
Die Serie spielt fast ausschließlich in Küche und Wohnzimmer – der soziale Mittelpunkt der WG. Hier wird diskutiert, gestritten, gegessen, versöhnt, geschwiegen und gelacht. All das – in einem bunten Mix aus Schweizer Dialekten: Zürideutsch bei Hans und Vreni, Baseldeutsch bei Flipp und Martha, Berndeutsch bei Rolf, später sogar Bündnerdialekt bei Moritz. Und genau dieser Mix macht den besonderen Klang der Serie aus.
Kleine Warnung – und eine Geschichte mit Folgen
Disclaimer: Diese Anekdote ist in der Rückschau witzig – aber nur, weil nichts passiert ist. Sie zeigt aber auch, wie wichtig es ist, bei tierischem Mitbewohnerkontakt mit Dämpfen und Substanzen vorsichtig zu sein. Ich habe daraus gelernt. Ehrlich.
Damals haben Ramon und ich mit Milo – seinem früheren besten Freund und meinem späteren Partner,aus dem Nachbardorf Therwil – Haschkekse gebacken. Oder wie man in der Schweiz sagt: Haschguetsli. Beide Türen waren geschlossen: die zur Küche und die zu meinem Zimmer. Ich dachte, das reicht.
Als ich fertig war mit dem Formen der Kekse und in mein Zimmer zurückkam, lag Perry auf meinem Bett. Ich stupste ihn an – aber er stand nicht auf. Erst als ich ihn regelrecht dazu brachte, sich zu bewegen, räumte er widerwillig den Platz. Daneben lag Atlan, der wie in Zeitlupe miaute. Er fing mit einem gedehnten „mi…“ an – und dann vergaß er, dass er miaute. Sekunden später kam dann aus dem Nichts das verspätete „…au“ hinterher. Ich war völlig fertig.
Ich dachte wirklich, sie seien krank. Ich rief verzweifelt nach Ramon. Der kam, hörte sich alles an, kuschelte mit den beiden, richtete sich auf, grinste mich an und sagte trocken:
„Die sind nicht krank. Die sind einfach nur breit.“
Ich fühlte mich wie der letzte Tierquäler. Ich hatte das nicht bedacht – dass der Dampf vom Decarboxylieren so durchzieht. Ich hatte ein übelst schlechtes Gewissen. Aber heute… heute lache ich drüber. Und ich weiß: Das passiert mir nie wieder.
Ein feiger Abgang – und was Milo meinen Katzen angetan hat
Über Milo habe ich oben schon kurz gesprochen, aber ich möchte trotzdem noch ein paar Worte über ihn verlieren. Eigentlich wollte ich nicht viel mehr darüber schreiben, aber es gehört zu meiner Geschichte dazu, und das lässt sich nicht einfach ausblenden. Ich habe ihn eine Zeit lang gehasst, heute ist er mir nur noch egal – aber es ist ja alles trotzdem passiert. Milo, falls du das lesen solltest: Fick dich ins Knie, du beschissener Tierquäler! So, genug geschimpft – nicht mal diese Wut meines früheren Ichs hat er verdient.
Ich habe lange mit Milo zusammengewohnt. Als ich plötzlich ins Krankenhaus musste, ging alles so schnell, dass ich ihm direkt online fast 1000 Franken überwies, damit er gut auf Perry und Atlan aufpasst, während ich abwesend bin. Ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen, dass er die Verantwortung übernimmt. Milo versprach mir, sich gut um die beiden zu kümmern. Doch es kam alles anders, als ich dachte.
Kurz vor Ende meiner Reha erfuhr ich von Ramon, dass die beiden bei ihm gelandet waren. Ich dachte damals, dass Milo sie einfach bei ihm abgesetzt hatte, weil er nicht den Mut hatte, ihn um Hilfe zu bitten. Vor meiner Zeit im Krankenhaus hatten die beiden sich schon gestritten, und ich ging davon aus, dass Milo sie einfach vor Ramons Tür abgesetzt hatte, ohne mit ihm zu sprechen. Ich dachte, er hätte sich wieder nicht der Situation gestellt und sich die Katzen einfach „vom Hals geschafft“, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Was wäre gewesen, wenn Ramon nicht da gewesen wäre?
An Milos und meinem Jahrestag, als ich von der Reha nach Hause kam, kaufte ich noch etwas Schönes für uns – im Glauben, dass der Tag vielleicht doch noch etwas Besonderes werden könnte. Doch als ich vor der verschlossenen Tür stand, verstand ich die Welt nicht mehr. Das Schloss war ausgetauscht worden, und mein Schlüssel passte nicht mehr. Es war ein Schlag, den ich nicht erwartet hatte. Ich fuhr daraufhin direkt zu Ramon in die WG. Er erzählte mir alles.
Perry und Atlan, die ich so schmerzlich vermisst hatte, während ich im Spital gewesen bin, waren bei Ramon gelandet – völlig verstört, abgemagert und mit verdreckten Katzenklos. Es war ein schrecklicher Anblick, und ich fühlte mich von Milo betrogen, der seine Verantwortung nicht wahrgenommen hatte. Er hatte ihnen nicht nur keine Pflege, sondern auch Schreie und Vernachlässigung zugemutet – und das erfuhr ich erst viel später. Ich machte mir vor allem Vorwürfe, dass ich geglaubt hatte, Milo würde sich wirklich um sie kümmern. Ich dachte, er würde Verantwortung übernehmen, aber stattdessen hatte er sie sowohl körperlich als auch emotional gequält. Man bedenke bitte, dass das lediglich die Dinge sind, von denen ich erfahren habe. Was da im Hintergrund noch alles lief, entzieht sich – ich möchte fast sagen: zum Glück – meiner Kenntnis. Die beiden waren das Wichtigste für mich, und sie hatten in dieser Zeit mehr als nur Pflege und Fürsorge gebraucht – sie brauchten jemanden, der für sie da war, und das war Milo nicht gewesen.
Ramon hatte die beiden inzwischen schon ein bisschen aufgepäppelt. Ich habe sie nie in diesem Zustand direkt gesehen. Im Nachhinein bin ich fast froh darüber – sonst hätte ich wohl einen Mord begangen. Aber auch heute noch mache ich mir Vorwürfe, dass ich sie nie so gesehen habe, weil ich wusste, wie gut Ramon zu ihnen war. Er hatte ihnen das gegeben, was sie gebraucht haben – Liebe und Sicherheit – und das habe ich nie direkt erlebt. Es war, als hätten sie alles verloren und mussten sich dann bei jemand anderem sicher fühlen. Das war eine bittere Erkenntnis für mich.
Kontaktaufnahme, Eskalation und ein Knoblauchspinat-Drama
Nachdem ich wusste, was mit den Katzen geschehen war, schrieb ich Milo. Ich wollte wissen, was das alles sollte – warum er Perry und Atlan in diesem Zustand einfach bei Ramon abgestellt hatte. Seine Antwort kam unerwartet förmlich: Er sei in Serbien, sein Vater sei schwer erkrankt. Keine Entschuldigung, kein Erklärungsversuch. Nur dieser eine Satz – als wäre das alles damit erledigt. Was mich dabei besonders irritierte: In dieser Nachricht forderte er mich außerdem auf, mir zwei Lastwagen zu mieten – einen, um die Sachen aus dem Keller zu holen (die ich nur gegen Vorlage eines Schlüssels vom ausschließlich albanischsprachigen Hauswart bekommen sollte), und einen weiteren, um die Sachen aus der Wohnung abzuholen, sobald er wieder zurück sei. Alles in einem Tonfall wie aus einem Geschäftsbrief, ohne jegliches Verständnis dafür, dass sich niemand einfach so zwei Umzüge leisten kann. Dabei hätte es so einfach sein können: Ein einziges Mal klar kommunizieren, sagen „Komm vorbei, wenn ich wieder da bin, und hol alles zusammen ab.“ Aber nein – es war typisch Milo.
Einige Zeit später – am Tag bevor ich in Corona-Quarantäne musste – kehrte Milo zurück. Nur kurz darauf schrieb er mir: Ich solle meine Sachen abholen, andernfalls würde er sie am Samstag entsorgen. Kein Gesprächsangebot, keine Rücksicht auf meine Situation. Nur diese Drohung.
Ich rief einen befreundeten Polizisten bei der Kantonspolizei Basel-Landschaft an und sagte ihm ganz offen, dass ich trotz Quarantäne losfahren würde, um meine Sachen zu retten. Er verstand mich. Die Polizei würde im Ernstfall Bescheid wissen. Also fuhr ich noch am selben Tag los – fiebrig, wütend und bereit, mein Eigentum zu verteidigen.
Ich saß im Treppenhaus vor Milos Wohnungstür und wartete. Ich dachte, er wäre beim Einkaufen – es war ungefähr die Zeit, zu der er sonst oft ging – und nachdem auch niemand auf mein Klingeln reagiert hatte, ging ich davon aus, dass niemand da sei.
Dann kam ein mir völlig unbekannter Nachbar und brüllte mich an, ich hätte Hausverbot, ich solle mich „verpissen“. Als ich ruhig antwortete, er könne gern die Polizei rufen, da die bescheid wissen, rief er stattdessen die Hausverwaltung an. Sie kontaktierten Milo, der dann endlich die Tür öffnete. Es war offensichtlich, dass man mich durch den Spion der Wohnungstür gesehen hatte, aber sich davor gescheut hatte, mir einfach zu öffnen. Schließlich gingen wir alle nach unten, und die Situation eskalierte weiter.
An der Haustür forderte Milo mich in der dritten Person auf, den Wohnungsschlüssel zu übergeben – ohne jegliche Gegenleistung. In diesem Moment tauchte ein zweiter, völlig unbekannter Nachbar auf, der sofort versuchte, mich zu schubsen. Ich blieb ruhig, wich nicht vom Standpunkt und blockierte weiterhin die Tür. Doch als er mich weiter schubsen wollte, lehnte ich mich entspannt zurück und klemmte ihn zwischen der Wand und mir ein. Da wurde mir mein unvorteilhaftes Gewicht dann wohl doch mal zum Vorteil. Aus Wut griff er dann nach meinem Gürtel und stahl mir mein sackteures Taschenmesser, das ich immer in einer kleinen Hüfttasche dabei habe, egal wo ich bin.
Als Milo merkte, dass ich nicht ohne meine Sachen gehen wollte, rief er schließlich die Polizei. Er behauptete, ich würde im Haus stehen und randalieren, obwohl ich der ruhigste in der gesamten Situation war. Stoja, Milos Mutter, stand nur da und jammerte vor sich hin, ohne sich wirklich einzumischen. Ich hingegen war einfach nur fest entschlossen, meine Sachen zurückzuholen.
Die Polizei kam jedoch nicht. Mein Freund bei der Kantonspolizei Basel-Landschaft hatte bereits dafür gesorgt, dass sie nicht eingreifen würden, da er wusste, dass ich in Quarantäne war und die Polizei mich ansonsten hätte mitnehmen müssen. Doch während des Telefonats stellte sich schnell heraus, dass Milo log: Er sprach von einem Ultimatum, das ich angeblich bekommen hätte – aber ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nichts davon. Es gab keine schriftliche Mitteilung und keine klare Vereinbarung, und die Polizei stellte klar, dass das Ultimatum, von dem er sprach, nicht rechtlich gültig war. Wenn er meine Sachen einfach entsorgen würde, machte er sich des Diebstahls meiner persönlichen Sachen schuldig – dazu gehörten auch Arbeitsmaterialien, die ich dringend brauchte, aber es waren auch viele persönliche Dinge von den Katzen und mir dabei. Mit dem Entsorgen hätte er sich gleich **zwei Klagen** eingehandelt – eine von mir und eine von meiner Firma, die auch noch betroffen gewesen wäre.
Das Schlimmste war jedoch, dass er nicht einmal gedachte, sich an sein eigenes Ultimatum zu halten. Er wollte meine Sachen bereits **fünf Tage vor Ablauf des Ultimatums** wegwerfen, was er sogar auch offen der polizei gegenüber in endloser Dummheit zugab. Ich verbuche das heute unter der Theorie, dass das wohl ein Versuch war, mich daran zu hindern, sie zurückzubekommen. Wahrscheinlich wollte er sich so jeglicher weiteren Auseinandersetzung mit mir entziehen. Die Polizei erklärte ihm klar, dass er das nicht einfach tun könne, weil er sich damit strafbar gemacht hätte. „Machen Sie keinen Quatsch“, sagte der Beamte ihm ins Telefon. „So geht das nicht.“
Währenddessen versuchte der aggressive Nachbar weiterhin, die Situation zu eskalieren. In einem Moment, als die Polizei in der Leitung war, brüllte er erneut: „Die Schlampe hat Corona! Die Schlampe stinkt!“ Es war ein weiterer Versuch, mich herabzusetzen und den ganzen Vorfall zu einer Farce zu machen. Ja verdammt, die Schlampe stank. Ich hatte an dem Tag ordentlich Knoblauchspinat gegessen, was mich zwar zu einer weniger angenehmen Geruchsquelle machte, aber keineswegs in irgendeiner Weise rechtfertigte, wie ich behandelt wurde. Wer rechnet denn auch damit, während Coronapäuschen daheim plötzlich vor die Tür zu müssen, da man das ja nicht mal darf.
Als der Polizist schließlich dafür sorgte dass ich zu Wort kam, war er eindeutig überrascht von der ruhigen Art, mit der ich alles erklärte. Milo und der aggressive Türschubsnachbar versuchten weiterhin, mir die Schuld zuzuschieben, aber der Polizist hörte mir aufmerksam zu und gab mir schließlich die Möglichkeit, alles klarzustellen. Es war offensichtlich, dass er die Situation verstand – ich hatte ruhig und sachlich erklärt, was passiert war, und er sah sich bestätigt in seiner Vermutung, dass ich in dieser Auseinandersetzung eher das Opfer war.
Der Polizist wies Milo dann darauf hin, dass ich ihm den Schlüssel zurückgeben würde, sobald wir einen Termin zur ordnungsgemäßen Abholung meiner Sachen ausgemacht hatten. „Die Polizei hätte Wichtigeres zu tun, als sich seine Lügenstorys und unbegründeten Behauptungen anzuhören“, schloss der Beamte, und damit war die Sache für ihn erledigt. Wir hätten eine Lösung gefunden, die für alle klar und rechtlich korrekt war.
Nachdem der Anruf mit der Polizei beendet war, stand ich mit Stoja vor der Tür. Sie rauchte eine Zigarette, und ich tat es ihr gleich, um die Situation zumindest etwas zu entspannen. In der Stille, die uns umgab, sagte sie plötzlich, dass sie mich mochte – ein überraschend ehrliches Geständnis, das ich im Moment nicht ganz einordnen konnte. Sie meinte, sie finde alles scheiße, dass dieser ganze Streit und die Eskalation nicht gut für irgendjemanden seien, und dass sie einfach wollte, dass alles endlich ein Ende findet. Dabei sagte sie auch, dass sie mit der Methodik ihres Sohnes, also Milo, überhaupt nicht einverstanden war.
Wir rauchten gemeinsam, und es war in gewisser Weise ein Moment der Ruhe zwischen all dem Chaos. Währenddessen verschwand Milo stinkig in seine Wohnung, offensichtlich nicht bereit, noch weiter zu diskutieren. Ich übergab Stoja schließlich den Schlüssel, und sie versprach mir, dass sie dafür sorgen würde, dass meine Sachen am Samstag nicht zum Schrottplatz, sondern zu meiner WG gebracht würden, wie ich es verlangt hatte.
Ich konnte es kaum fassen, dass sie mir diese Zusicherung gab – sie hielt Wort und brachte meine Sachen am Samstag wie versprochen. Es war ein kleiner Schritt in Richtung eines Abschlusses, aber noch lange nicht das Ende der ganzen Geschichte.
In den darauffolgenden Wochen begann ich, die Ereignisse zu verarbeiten. Die Zeit mit Ramon und die Gespräche, die wir führten, halfen mir, den Knoten zu entwirren und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Es war nicht einfach, aber die Unterstützung und das Vertrauen, das ich in dieser Zeit wiederaufbaute, halfen mir, weiterzumachen. Es war, als hätte ein neuer Abschnitt meines Lebens begonnen, auch wenn ich noch immer mit der Erinnerung an alles, was passiert war, lebte.
Die Erfahrungen mit Milo, dem Chaos, der Verletzung und dem Verlust waren eine schmerzhafte, aber wichtige Lektion. Ich lernte, Menschen und ihre wahren Gesichter zu erkennen – wer mich wirklich unterstützt und wer nur vortäuscht, für mich da zu sein. Diese Zeit war notwendig, um zu verstehen, was echte Freundschaft, echte Verantwortung und Vertrauen wirklich bedeuten. Und sie zeigte mir auch, wie sehr man in der dunkelsten Stunde auf sich selbst und auf die richtigen Menschen angewiesen ist.
Vor der Pleite der Firma hatte ich wenigstens noch die Zeit, mich selbst zu heilen. Ich konnte die Wunden lecken, die durch die Erlebnisse mit Milo und den ganzen Umbruch entstanden waren, bevor der nächste Schlag in die Fresse kam. Bevor mir plötzlich alles genommen wurde und ich gezwungen war, meine Heimat zu verlassen. In gewisser Weise war die Zeit, die ich noch hatte, ein letzter Atemzug der Stabilität, bevor der Wind des Lebens mich erneut und ungewollt in eine völlig andere Richtung zerrte.
Der letzte Tritt in die Eier – und das Ende meiner Heimat
Es war ein Moment, den ich nie vergessen werde – der Tag, an dem mir gesagt wurde, dass die Firma kurz vor dem Aus steht. Ich erfuhr, dass mein Vertrag nicht verlängert würde, und die Arbeitsverträge für alle anderen Mitarbeiter ebenfalls nicht erneuert würden. Die Firma stand auf der Kippe, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie schließen würde. Die Nachricht traf mich wie ein Schlag. Ich versuchte, panisch nach einem neuen Job zu suchen, aber die Zeit war viel zu knapp. Die Welt schien sich schneller zu drehen, als ich mithalten konnte. Doch trotz aller Bemühungen war irgendwann klar: Ich musste gehen.
Die letzten Tage in der Schweiz verbrachte ich damit, mein Zeugs zu packen. Mein Zimmer wirkte leer, der Raum in dem ich so viele Erinnerungen hinterließ. Die Möbel hatte ich Ramon überlassen – er würde die verbleibenden Dinge weiter nutzen, aber für mich war alles, was ich besaß, nur noch eine Erinnerung. Während ich meine Sachen in Kartons stopfte, weinte ich immer wieder. Jedes Mal, wenn ich etwas berührte, hatte ich das Gefühl, als würde mir jemand etwas Lebenswichtiges wegnehmen. Es war, als würde ein Teil von mir selbst mit den Kisten und Kartons in den Umzug verschwinden.
Ich fühlte mich verloren und verlassen, während ich die letzte Woche in der Schweiz verbrachte. Die Arbeitssuche bis zu diesem Moment war ein verzweifelter Versuch, etwas zu retten, doch es war zu spät. Alles, was ich gekannt hatte, bröckelte auseinander. Jedes Mal, wenn ich weinte, hatte ich das Gefühl, als ob ich mehr als nur meinen Job oder meine Wohnung verliere – es war, als würde mir ein Stück meines Lebens weggerissen. Der Gedanke, diese vertraute Umgebung hinter mir zu lassen, brachte mich innerlich fast zum Zerbrechen. Doch ich wusste, dass ich keine Wahl hatte – ich musste gehen, um einen neuen Anfang zu finden. Aber diese letzte Zeit in der Schweiz, das Packen, der Abschied – das fühlte sich an, als würde alles vergehen, das mir wichtig war.
Jetzt – Jahre später
Ich lebe in Deutschland.
Ich habe neue Menschen gefunden, neue Wege.
Ein Alltag, der funktioniert. Eine gewisse Struktur.
Aber innerlich… bin ich nie wirklich angekommen.
Ich trage die Schweiz in mir wie eine verblasste Tätowierung – sichtbar nur für mich, aber unauslöschlich.
Ich denke oft an Oberwil. An die WG.
An Ramon.
An die Stille im LKW, als wir losfuhren.
Und daran, wie sehr ich mich seitdem nach einem Ort sehne, den ich nicht einfach besuchen kann –
weil er sich für mich wie Heimat anfühlt, aber rechtlich keiner ist.
Im Juli fahre ich zurück – für eine Woche
Ich kehre zurück.
Nicht dauerhaft – nur für ein paar Tage.
Aber ich werde in meiner alten WG wohnen.
In meinem ehemaligen Zimmer.
Der Raum, in dem ich gelebt, gedacht, geliebt, getrauert und gelacht habe –
er wartet auf mich.
Ein ganzes Leben auf Pause, plötzlich wieder greifbar.
Ich werde Ramon wiedersehen.
Die Straßen von Oberwil.
Vielleicht auch mich selbst – zumindest einen Teil.
Ich weiß nicht, wie es wird.
Ob es wehtun wird.
Ob es gut tun wird.
Vielleicht beides.
Aber ich muss hin.
Weil ich spüren muss, wie viel von mir noch dort ist.
Was wäre, wenn…
Wenn mir morgen jemand sagen würde:
„Filip, hier ist deine Schweizer Staatsbürgerschaft. Hier ist eine Wohnung in Oberwil.“
Ich würde keine Sekunde zögern.
Ich würde Perry und Atlan einpacken – wie damals.
Diesmal auch Kenai.
Und meine Leopardgeckos: Crest, Pandora und Glenda.
Wir würden fahren. Diesmal nicht mit Tränen.
Sondern mit Hoffnung.
Ich würde mit Ramon wieder frühstücken.
Wieder über alte Zeiten reden.
Vielleicht sogar wieder in der WG wohnen – wer weiß.
Es wäre nicht wie früher.
Aber es wäre wieder echt.
Wieder Zuhause.
Bis dahin…
…lebe ich hier weiter.
Mit dem, was ich habe.
Mit all den Schritten, die ich seither gegangen bin.
Aber mein Herz schlägt noch immer in zwei Ländern.
Und ein Teil von mir bleibt, wo ich ihn verloren habe:
In Oberwil.
Bei Ramon.
Und bei dem Gefühl, angekommen zu sein.