Kapitel 0 – Der Empfang (Zlatka erzählt)
Es war kurz nach drei Uhr morgens, als das Rauschen losging. Erst ganz leise, wie ein elektrischer Furz im Funknebel. Dann lauter. Ich blinzelte, hob träge den Kopf. Mein Funkgerät lag auf dem rostigen Kanister, direkt neben dem Einkaufswagen. Das Rauschen war kein normales Hintergrund-Geraffel – das war Frequenz mit Ambitionen.
Dann kam sie. Die Stimme.
„Sei gesegnet, wanderndes Wesen… der Kreis sieht dich.“
Ich blinzelte. „Ja, und der Kreis kann mir mal kreuzweise an der Poperze Schleckern.“, murmelte ich.
Die Stimme klang wie eine übergriffige Klangschale mit Sendungsbewusstsein. So’n esoterischer Predigt-Vibe, irgendwo zwischen Räucherstäbchenentzug und Sektenradio auf Beruhigungsmitteln.
„Deine Last ist nicht deine Schuld. Komm zu uns. Heile dich selbst.“
Ich musste lachen. Allein. Um drei Uhr nachts. Unter einem halb zerrissenen Werbebanner, mit einem Funkgerät, das plötzlich spirituell wurde. Ich schnaufte durch, rollte mich wieder zusammen und dachte: Okay. Klar. Warum nicht. Vielleicht ist das hier der Moment, in dem mein Leben zur Frequenz-Fanfiction wird.
Dann döste ich wieder ein. Kurz. Ich träumte irgendwas von schwebenden Thermoskannen und einem Chor aus Altölflaschen. Völlig normal.
Am Morgen kroch ich in Zeitlupentempo in den Tag und packte mein Gerümpel in den Einkaufswagen. Mein Bike war wie immer fest mit dem Wagen verschnürt – mobile Irrenanstalt, aber mit Stil. Ich startete den Motor, der klang wie ein asthmatischer Rasenmäher mit Gottkomplex, und fuhr los.
Die Brücke kam in Sicht. Glenda, Crest und Pandora waren natürlich schon da. Seit dem Festival hatte sich eine Art Routine eingebürgert: Jeden Morgen traf sich die Gang hier – zum Kaffee, Schrottsortieren und gegenseitigem Beschnuppern. Eine Mischung aus Chaostherapie und Kaffeekult.
Glenda stand am Biertisch, ihre allgegenwärtige Thermoskanne vor sich, und goss mit seelenruhiger Miene irgendetwas in die bereits dampfende Brühe. Es war vermutlich ursprünglich Altölkaffee – inzwischen aber veredelt mit Kakaopulver, gemahlenem Toast und einer klebrigen Flüssigkeit, die aussah wie geschmolzener Zahnersatz.
Ich parkte mein Maschinchen, holte mein Funkgerät aus dem Einkaufswagen und wuchtete es auf den Biertisch.
In dem Moment trafen auch die anderen ein: Benny mit seinem geräuschlosen Bike, Milena mit dem Lenkverhalten eines betrunkenen Einkaufswagens, Wojtek in seinem rollenden Kühlschrank, Daggi mit dem Laubbläsermotor, Elfi auf ihrer neonfarbenen Geräuschkulisse – und Branko, stoisch wie ein Standbild mit Gashebel.
Bevor irgendwer was sagte, ging die morgendliche Kaffee-Choreografie los. Jeder hatte inzwischen seinen eigenen Becher – zusammengeklaut, zusammengeschnorrt oder war schlichtweg psychisch mit ihm verwachsen.
Ich hatte einen pinken Kinderbecher mit Einhorn, Crest trank aus einem zersprungenen Porzellanbecher mit Delfinmotiv, Glenda aus einer emaillierten Suppentasse mit „Gulasch für alle“ drauf. Elfi hatte sich einen goldenen „#1 Papa“-Pokal gekrallt, Milena benutzte einen Thermobecher mit dem Aufdruck „Just don’t“, Benny trank aus einem halben Messbecher, Wojtek aus einer alten Blechschüssel, Daggi aus einem Emaille-Kaffeetopf mit Loch im Henkel. Und Branko? Hielt seinen Herr der Ringe-Becher so, als wär’s ein Akt der Busse.
Glenda goss jedem was ein. Der Inhalt war jedes Mal leicht anders. Diesmal: Altölbasis, ein Schuss saurer Gurkenessig, Chili und ganz vielleicht Kaffee.
„Für die Durchblutung“, erklärte sie und grinste wie eine Klerikerin mit Gottkomplex und Koffeinproblem.
„Ich hab heut Nacht was empfangen“, sagte ich, nachdem ich einen Schluck gewagt hatte und mein Zungenbelag anfing, über Flucht nachzudenken.
„’nen Schlag?“ fragte Glenda.
„’ne Frequenz“, erwiderte ich und drehte den Knopf am Funkgerät.
Rauschen. Dann wieder: diese Stimme.
„Der Kreis erkennt dein innerstes Leuchten…“
„Mein was?“ rief Glenda. „Ich hoff, das ist nix Ansteckendes.“
„Klingt wie’n esoterischer Anmachspruch für Aluhüte“, sagte Crest.
„Oder wie die Ex von meiner Schwester“, murmelte Pandora, nahm noch einen Schluck und würgte leise.
„Wartet, da kommt noch mehr“, grinste ich.
„Finde in uns den Ursprung deines Selbst – in Liebe, Licht und Leitung.“
Jetzt war’s vorbei. Glenda schlug mit der Pfote auf die Tischkante. Pandora heulte vor Lachen. Crest kippte fast vom Hocker. Die anderen kringelten sich regelrecht.
„Wer zur Hölle sendet sowas?“ keuchte Milena. „Ein Glückskeks mit Funkantenne und zu viel Schnaps?“
„Vielleicht so’n spiritueller Piratensender“, meinte Crest. „Mit LSD im Sendemast und Meditationspflicht.“
„Ich will da Mitglied werden“, japste Pandora. „Aber nur, wenn’s Sticker gibt.“
„Oder Funkgeräte mit Räucherstäbchenhalter“, warf Elfi ein.
„Oder Uniformen aus Nudelteig und Selbstüberschätzung“, schlug Benny vor.
Ich zuckte mit den Schultern. „War halt da. Hatte Unterhaltungswert.“
„Gute Frequenz“, meinte Crest. „Wir nennen sie Fortsetzung folgt FM.“
Wir tranken weiter. Die Brühe war grausam, aber ritualisiert. Der Tag begann wie immer: mit Koffein, Wahnsinn und leichtem inneren Brennen.
Und das Signal? Wir lachten noch zwei, drei Mal drüber – und dann war’s vergessen. Irgendwo zwischen Altöl und Irrsinn versickert.
Keiner nahm’s ernst.
Damals jedenfalls nicht.
Kapitel 1 – Die Kreise schliessen sich (Pandora erzählt)
Seit dem Esofunk war ein bisschen Zeit vergangen. Keiner nahm den Quark mehr ernst, also noch weniger, als so schon. Glenda hatte bei der letzten Erwähnung eine leere Gasflasche über den Biertisch gefeuert und gebrüllt: „Wenn ich spirituelle Frequenzen will, dann sauf ich Räucherstäbchenwasser mit LSD-Granulat!“ Crest hatte das gefeiert. Ich hab nur gelächelt. So halb. Irgendwas an dieser Stimme… blieb hängen.
Es war so ein seltsames Nachhallen. Wie ein Mantra, das sich zwischen die Ohren klemmt. „Der Kreis sieht dich.“ Pah. Der Kreis kann mich mal im Kreis drehen.
Ich hatte heute früh einfach mein Bike geschnappt. Raus aus der Brückengegend, rein ins versiffte Stadtgetrubel. Ich sagte, ich wolle Schrott sichten. In Wahrheit wollte ich einfach Abstand. Frische Luft. Naja. GossenLuft. Aber immerhin ohne Altölkaffeearoma.
Und dann stand er da.
Mitten in einer verdreckten Seitenstrasse, zwischen zwei halb eingestürzten Lagerschuppen und einer Autoleiche:
Ein Biber. Ja. Ein verdammter Biber.
Er trug eine Kutte aus geflickten Gardinenstoffen, seine Zähne waren mit Glitzer bemalt, und um den Hals trug er eine Kette aus Klanghölzern und USB-Sticks. Es klapperte rhythmisch, als hätte ein Musikkindergarten ein Erweckungserlebnis.
„Du da“, sagte er.
Ich blieb stehen. „Du mich auch.“
„Du trägst eine Last“, sagte er. „Nicht deine Schuld. Aber deine Bürde.“
Ich hob eine Augenbraue. „Ich trage höchstens ein kaputtes Rücklicht und einen Tank, der nach Glendas Kaffee riecht.“
Er lächelte. So süsslich-milde, dass ich fast einen allergischen Schub auf passiv-aggressives Mitgefühl bekam.
„Dein innerstes Leuchten ist verschüttet. Aber der Kreis erkennt es.“
„Der einzige Kreis, den ich erkenne, ist mein Reifensatz, okay?“
Er atmete tief durch. So einen Ausdruck im Gesicht wie ein bekifftes Räuchermännchen. Dann streckte er mir eine kleine Broschüre entgegen.
„Wenn du bereit bist… der Weg wird sich zeigen.“
Ich nahm sie nicht. Ich sah sie nicht mal richtig an. Ich trat einen halben Schritt vor, bissig ruhig.
„Noch ein Satz, und ich schraub dir deinen Chakra-Vibrator ins Innenohr.“
Er neigte den Kopf. „Du brauchst nur deine eigene Erlaubnis, dich selbst zu heilen.“
„Ich brauch einen Schraubenzieher und ’ne bessere Ausrede fürs Spätaufstehen.“
Ich liess ihn stehen. Drehte mich um. Sagte kein weiteres Wort. Aber der Klang seiner bekloppten Muschelkette verfolgte mich noch zwei Strassenecken weit.
Zurück an der Brücke erzählte ich nix. Nur ein „Hab nix Brauchbares gefunden. Schrott war leer.“
Crest nickte. Glenda rührte in ihrem Kaffee mit einem Löffel, der mal Teil eines Auspuffs war. Zlatka feilte an einer Antenne und die Anderen waren nirgendwo zu sehen.
Und ich?
Ich sass da. Und hörte innerlich diesen verdammten Satz nochmal:
„Der Kreis erkennt dein innerstes Leuchten.“
Und ich hasste es, dass irgendwas daran… kleben blieb.
Kapitel 2 – Die Saat geht auf (Branko erzählt)
Der Tag begann wie die meisten: mit einem Schluck Grauen aus Glendas Thermoskanne und dem Versuch, beim Schrauben nicht komplett den Verstand zu verlieren. Ich sass unter der Brücke, mein Bike lag halb zerlegt vor mir, daneben eine Sammlung rostiger Werkzeuge, die aussahen wie aus einer sadistischen Zahnarztpraxis.
Pandora war auch da. Schon eine Weile. Sie sprach nicht, was nichts Neues war. Aber wie sie da sass – leicht schräg, fast schon versunken – das war… anders. Ich hatte meine Arbeiten abgeschlossen, einen Radwechsel und baute meine Höllenmaschine wider zusammen.
Sie hatte während der ganzen Zeit einen alten Schraubenzieher in der Pfote und ritzte etwas in den Metallrahmen ihres Bikes. Nicht ziellos. Immer wieder das gleiche Symbol. Kreise. Kleine, ineinander verschlungene Kreise.
Ich legte mein Werkzeug beiseite und trat näher. „Neue Lackierung, oder brauchst du nur ein spirituelles Ventil?“
Sie zuckte kaum merklich zusammen. Sah mich dann an. Ein Blick, wie man ihn jemandem zuwirft, dem man nicht sagen will, dass man nachts mit Geistern spricht – aber der’s eh schon ahnt.
„Ich muss da nochmal hin“, sagte sie leise. „Zu diesem Ort.“
„Welcher Ort?“
Sie sah kurz weg, dann wieder zu mir. „Da, wo dieser Biber war. Mit der Gardinenkutte. Wo ich letztens hingefahren bin.“
Ich erinnerte mich. Sie hatte damals gesagt, sie habe nichts gefunden. Aber so, wie sie jetzt klang – war da sehr wohl was gewesen.
„Und du willst nicht allein hin?“
Sie schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, was das ist. Aber irgendwas… zieht. Wenn du mitkommst… wär das gut.“
Ich nickte. Kein Wort zu viel. Ich nahm mein Bike, klopfte mir die rostigen Schraubenreste vom Fell und fuhr los. Sie neben mir. Kein Ziel, kein Plan – nur diese Ahnung im Wind, dass irgendwas aus dem Ruder lief.
Wir kamen an. Dieselbe verdreckte Seitenstrasse, wie sie’s mir Unterwegs beschrieben hatte. Zwischen zwei eingestürzten Lagerschuppen und der rostigen Autoleiche, wo alles nach Muff, Moos und seltsamen Entscheidungen roch.
Und da war er.
Der Biber. Wieder exakt da, wo sie ihn gefunden hatte. In seiner Gardinenkutte, die bei jedem Windstoss wirkte, als würde sie gleich ein esoterisches Gewitter auslösen. Die Klangholz-USB-Kette klimperte beim Atmen, und seine Zähne funkelten mit dem Glitzerlack wie ein Bastelprojekt auf Drogen.
„Ihr seid gekommen“, sagte er. „Der Kreis erkennt, wenn Wege sich kreuzen.“
Pandora blieb stehen. Ich auch. Ich war nicht sicher, ob ich ihm zuerst die Schnauze oder die Kette polieren sollte, aber ich hielt mich zurück.
„Du warst nicht allein letztes Mal“, sagte er zu Pandora. „Nicht innerlich. Jetzt bist du’s auch äusserlich nicht.“
„Spar dir die Poesie“, knurrte ich. „Was soll das hier?“
Er lächelte. „Ein Kreis. Kein Zwang. Nur Einladung.“
Hinter ihm: die beiden Lagerschuppen, heute mit offenen Türen. Darin erkannte ich ein improvisiertes Lager. Teppiche, Plastiklampions, selbstgebastelte Symbole. Tiere, die zu freundlich schauten. Eine Kaninchendame mit Räucherstäbchen im Ohr. Ein Hamster mit Stirnband. Eine Möwe, die ein Windspiel trug. Es war wie ein Bioladen, der einen Nervenzusammenbruch hatte.
„Heute Abend treffen wir uns“, sagte der Biber. „Ein paar mehr. Austausch. Verbindung. Ihr seid willkommen.“
Pandora sah ihn lange an. Dann mich. „Ich will hin. Aber nur, wenn du mitkommst.“
Ich nickte. Nicht aus Überzeugung. Sondern, weil ich das Gefühl hatte: Wenn ich sie jetzt allein gehen lasse, verliere ich sie.
Wir sagten nichts weiter. Drehten um. Fuhren zurück zur Brücke. Der Biber winkte uns nach, als hätte er uns nie nicht gekannt.
Und während die Gasse hinter uns verschwand, hörte ich ihn leise sagen:
„Der Kreis beginnt dort, wo zwei sich entscheiden.“
Kapitel 3 – Sechs gehen (Elfi erzählt)
Als ich an der Brücke ankam, sassen Glenda und Crest schon da. Glenda rührte mit einem rostigen Schraubenzieher in ihrer Thermoskanne, während Crest ein Stück Draht bog, als würde es gleich den Sinn des Universums offenbaren.
Und Pandora? Sass da wie ein religiöser Wackelpudding. Ganz still. Ganz ruhig. Der Blick irgendwo zwischen Erleuchtung und Durchfall. Ich kannte sie anders. Normalerweise hätte sie spätestens beim Kaffeedampf angefangen, sarkastisch über Glendas neueste Geschmacksverirrung zu lästern. Heute? Nichts. Nur eine verklärte Ruhe, die mich sofort nervös machte.
„Hat jemand den Realitätsfilter ausgeschaltet oder ist das hier Pandoras meditatives Ich?“
„Sie hat vorhin ‚Kreisenergie‘ in den Boden gemurmelt“, sagte Glenda. „Ich hab dann extra noch einen Schuss Karamellsirup und Hustenlöser in den Kaffee gekippt – vielleicht hilft’s.“
Ich nahm meinen Becher – der „#1 Papa“-Pokal, inzwischen mit eingebrannten Kaffeeflecken, die wahrscheinlich als biologische Waffe durchgehen würden – und setzte mich. In dem Moment kam Branko dazu. Ruhig. Unauffällig. Setzte sich direkt zu Pandora, als wär das geplant gewesen.
Dann kam der Rest. Benny mit einem halben Bauplan im Fell, Milena mit Megafon unterm Arm, Daggi laut schimpfend über irgendwas, das sie „die kulturelle Dekadenz unter Ratten“ nannte, und Wojtek mit seinem Aquariumhelm voller Staub. Zlatka rollte wie immer hinterher – mit dem Funkgerät auf dem Rücken und der Ruhe einer Schildkröte mit Funklizenz.
Die Stimmung war kurz normal – laut, schräg, leicht entflammt.
Glenda verteilte den Kaffee. Heute war’s eine Mischung aus Altöl, Senfsaat, Kakaopulver und einem Schuss Klostergeist, den sie von irgendwo aufgetrieben hatte. „Für die spirituelle Verbindung zur Gosse“, meinte sie.
„Der Kaffee ist heute besonders… existenziell“, sagte Crest und betrachtete seinen Becher wie eine schwarze Messe mit Milchschaum.
„Also“, begann Glenda und fixierte Pandora mit einem Blick wie ein Schraubstock im Seelenformat. „Ihr wart gestern verdammt früh weg. Branko, bei dir okay – du schläfst eh nicht hier. Aber Pandora? Du bist sonst die Erste, die sich beim Losgehen wichtig macht. Und gestern bist du wortlos verschwunden und erst spät wieder aufgetaucht.“
„Und das ganze Zelt roch nach abgebrannten Räuchermännchen“, warf Crest ein. „Ich dachte schon, Zlatka hätte sich ’nen neuen Tee aufgebrüht.“
Pandora seufzte. „Ich hab jemanden getroffen.“
„Lass mich raten. Einen spirituellen Lieferdienst für Wahnsinn?“
„Einen Biber“, sagte sie. „Mit Glitzerzähnen, Klangholz-USB-Kette und Gardinenkutte.“
„Das klingt wie eine Esoterikmesse auf Drogen.“
„Er sprach vom Kreis“, mischte sich Branko ein. „Von innerem Licht. Heilung. Und… dass es einen Weg gibt.“
„Jup“, sagte ich. „Und der Weg führt direkt ins Zentrum der Gehirnwäsche mit Klangschale.“
Pandora fuhr fort: „Er hat uns eingeladen. Zum Treffen. Gestern Abend.“
Ein paar Sekunden Schweigen. Dann begann das übliche Gezeter.
„Und was lief da? Kumbaya in Zeitlupe?“ fragte Glenda.
„Gab’s Chips? Oder nur selbstgebackene Chakrakekse?“ knurrte Crest.
Doch Benny, Daggi, Milena und Wojtek… hörten zu. Zu genau. Zu interessiert. Benny murmelte was von „nur mal sehen“. Milena starrte Pandora an, als hätte sie gerade eine Tür geöffnet. Daggi und Wojtek rückten näher.
„Wir wollten doch heute Schrott sortieren“, sagte ich. „Ramona wartet.“
„Ja, ja“, winkte Wojtek. „Kommen gleich.“
Aber wir sortierten dann erstmal alleine. Zlatka, Glenda, Crest und ich – wie immer am Rand des Wahnsinns, zwischen Metallteilen mit Charakter und Schrauben mit schlechten Manieren.
Die anderen kamen später dazu. Doch irgendwie… anders. Die vier – Benny, Milena, Daggi, Wojtek – rückten näher zu Pandora und Branko. Flüsterten. Lausten. Ich beobachtete das eine Weile, dann ging ich hin.
„Was läuft hier? Ihr redet kaum noch mit uns.“
„Es gibt einen anderen Weg“, sagte Branko. „Wir… gehören woanders hin.“
„Aha“, sagte ich. „Und wo genau? In den Zirkel der verlorenen Räuchermännchen?“
„Es ist ruhig dort“, sagte Milena. „Sauber. Richtig.“
„Ihr klingt wie ein sektenhafter Podcast mit Live-Coaching-Option“, zischte Glenda.
„Wir sehen’s nur früher als ihr“, murmelte Benny.
Da wusste ich: Wir hatten sie verloren.
„Dann geht doch“, sagte Crest. „Aber lasst den Kaffee da.“
Und sie taten es. Sechs Becher. Still nebeneinandergestellt. Keine Worte. Keine Abschiede.
Pandora ging zuerst. Branko folgte. Dann Benny, Milena, Daggi und Wojtek. Der Boden vibrierte nicht. Der Himmel zuckte nicht. Nur der Schrottberg sah plötzlich ein bisschen leerer aus.
Glenda goss sich nach. Doppelter Schuss. Diesmal mit Essig, Teer und Mentholöl. „Wenigstens sind wir jetzt wieder unter uns.“
Zlatka murmelte was ins Funkgerät. Crest hob die Pfote zum Gruss in Richtung Nichts. Und ich sass da, meinen Pokal in der Hand, und fragte mich, wann genau wir aufgehört hatten, gemeinsam zu lachen.
Sechs waren gegangen. Nicht aus Trotz. Nicht aus Hass. Nur, weil irgendwas sie gerufen hatte.
Und keiner von uns konnte sagen, was es war. Nur, dass es zu spät war.
Kapitel 4 – Der Brückenkern / Der Kreis formt sich (Zlatka erzählt)
Der Morgen war noch nicht mal richtig wach, aber mein Funkgerät war’s. Es knackte und rauschte, als hätte es Alpträume. Ich richtete mich langsam auf, streckte alle vier Beine und schnaufte einmal tief durch. Mein Rücken knackte wie eine alte Tür mit Haltungsschaden.
Ich hatte die Nacht in meiner üblichen Mulde unter dem zerrissenen Werbebanner verbracht. Nicht gemütlich – aber funktional. Mein Einkaufswagen stand neben dem Bike, sorgsam verschnürt, Funkgerät obendrauf, wie immer. Ich überprüfte die Gurte, packte meinen restlichen Kram ein und startete mein Maschinchen. Der Motor röhrte kurz, wie ein Staubsauger mit Selbstzweifeln, dann setzte ich mich in Bewegung.
Die Brücke lag da wie immer – rostig, müde und irgendwie beruhigend. Als ich ankam, waren Glenda, Crest und Elfi schon da. Crest hatte einen alten Schraubenzieher und versuchte, damit eine zerdrückte Getränkedose in eine Spirale zu falten. Nicht weil das irgendeinen Sinn ergab, sondern weil seine Pfoten was tun mussten. Elfi kaute auf einem Plastikstrohhalm herum, der aussah, als hätte er schon drei Vorbesitzer überlebt.
Glenda stand neben dem Biertisch und hantierte mit ihrer Thermoskanne, als würde sie ein Ritual durchführen. Das ganze sah mal wider sehr wild aus. Altöl, Waldmeister, Hustenbonbon und ein Klumpen brauner Masse, der in der Flüssigkeit trieb und aussah wie eine Portion philosophisch interessierte Hundekacke.
„Heute mit Twist“, sagte sie. „Riecht wie ein Verbrechen, schmeckt wie ein Rückfall.“
„Was ist das da drin?“ fragte Crest und zeigte auf die Masse.
„Ein Rest Schokoladenpudding von vorgestern. Oder Schuhcreme. Ich hab’s vergessen.“
„Schön, dass du wenigstens ehrlich bist“, murmelte Elfi. „Schmeckt bestimmt wie Schuldgefühle mit Nachgeschmack.“
„Wer will zuerst?“ fragte Glenda und hob die Thermoskanne wie eine heilige Reliquie.
„Her damit“, sagte Elfi und hielt ihren „#1 Papa“-Pokal hin. „Wenn schon Hölle, dann mit Anlauf.“
„Gib mir auch was“, murmelte Crest. „Ich will testen, ob meine inneren Organe sich freiwillig ausloggen.“
Glenda goss ein und grinste wie eine Alchemistin mit Todeswunsch. Ich zog meinen Becher näher an mich – aber nur, um ihn fest zuzuhalten. Kein Tropfen kam da rein.
„Nicht für mich“, sagte ich. „Ich bin noch traumatisiert von letzter Woche. Die Bohnenstücke hatten Zähne.“
„Fein. Dann bleibt mehr für die Mutigen“, sagte Glenda und prostete sich selbst zu.
Wir sassen da. Vier übrig gebliebene Irrtümer einer besseren Welt. Und der Tag fing gerade erst an.
„Also“, begann Elfi nach dem dritten Schluck und einem leisen Röcheln, „gestern war beschissen.“
„Beschissen ist noch diplomatisch“, sagte Crest. „Die sind abgezogen wie ein Kinderchor mit Hirnwäsche-Abo.“
„Ich mein, Milena. Die hat noch letzte Woche ’nen Einkaufswagen in Brand gesetzt, weil der zu ordentlich stand. Und jetzt spricht sie von innerem Licht?“
„Vielleicht war’s nur die Reflektion von Glendas Kaffee“, warf ich ein. „Der leuchtet manchmal auch von innen.“
„Ich vermisse Daggi“, murmelte Elfi. „Nicht ihre Stimme. Oder ihre Witze. Oder ihre Anwesenheit. Nur… das Gegengewicht.“
„Ich vermisse mein Gefühl in der Zunge“, sagte Crest. „Aber das ist wohl auch weg.“
Wir wurden still. Nur das Funkgerät knackte kurz. Ein Echo von dem, was gewesen war. Oder dem, was noch kam.
Daggi – Morgen
Der Raum war weiss. Kein steriles Krankenhausweiss, sondern dieses synthetische Matt, das selbst Bakterien keinen Halt gibt. Boden, Decke, Wände – alles glatt, fugenlos, kalkig. Keine Fenster. Keine Möbel – bis auf einen Hocker aus Kunststoff und einem kleinen Tisch aus derselben Farbe, derselben Seelenlosigkeit. Exakt in der Mitte des Raumes. Nichts lag darauf. Kein Krümel. Kein Staub. Als hätte selbst die Realität keinen Zutritt.
Die Tür hinter mir hatte sich geschlossen, ohne Geräusch. Ich wusste nicht einmal mehr, ob es eine Tür war – oder nur ein Spalt im Nichts.
Ich fror. Aber nicht, weil es kalt war. Sondern weil alles hier wirkte, als hätte jemand versucht, jede Form von Leben auszubügeln. Selbst der Geruch war klinisch – wie gefilterte Frischluft mit Absicht.
In der Wand vor mir öffnete sich plötzlich ein schmaler Schlitz. Wie bei einem Bankautomaten für Gehirnwäsche. Heraus kam ein kleines Heftchen. Es fiel auf die glatte Tischplatte. Daneben ein Stift – glatt, grau, fast zu perfekt.
Ich hob das Ding auf. Handgeschöpftes Papier. Leicht körnig, aber sauber geschnitten. Auf dem Cover: ein stilisiertes Auge in einer Sonne. Darunter, gedruckt in sanftem Serifenschriftzug: „Deine Last ist willkommen. Schreib sie nieder. Der Kreis sieht dich.“
Eine Stimme erklang. Kein Lautsprecher zu sehen. Aber sie war da. Süsslich, ruhig, zu ruhig.
„Willkommen, Daggi. Dies ist dein Tag der Klärung. Du wirst schreiben. Alles, was du trägst. Alles, was du warst. Lass es hier. Nur dann kannst du heute Abend aufgenommen werden.“
Ich schluckte. „Wie lange?“
„Bis zur Reinigung. Du wirst spüren, wann es genug ist.“
Ich setzte mich. Der Hocker knarzte nicht. Der Tisch fühlte sich nicht an wie ein Tisch – eher wie eine Fläche, die beschlossen hatte, so zu tun. Direkt vor mir: ein schmaler, eingelassener Schlitz in der Wand. Kaum sichtbar, aber die Position war seltsam. So, dass man direkt von oben auf meine Pfoten sehen könnte. Oder auf das, was ich schrieb.
Ich spürte einen leichten Luftzug. Vielleicht ein Lüftungsschacht. Vielleicht nicht.
Über mir: eine flache Leuchte. Und genau daneben… eine kleine Vertiefung. Rund, metallisch, kaum auffällig. Eine Linse? Ich starrte kurz hin. Dann sah ich weg. Es war vermutlich gar nichts. Oder alles.
Ich atmete aus. Und begann zu schreiben.
Ich bin Daggi. Ich bin laut. Ich bin zu schnell im Maul und zu langsam im Verzeihen. Ich brülle, wenn ich hätte zuhören sollen. Ich habe Schrott geliebt, weil er ehrlich war. Aber ich war es nie. Nicht zu mir. Nicht zu anderen.
Ich bin hier, weil ich müde bin. Weil ich Halt will. Weil ich glaube, dass es mehr geben könnte als das, was unter Brücken fault. Und weil ich, verdammt noch mal, einfach dazugehören will.
Die Uhr tickte nicht. Es gab keine Uhr. Nur die Stille. Und das Schreiben. Seite um Seite.
Und irgendwo, vielleicht, ein Blick, der mitlas.
Nachmittag – Zlatka
Den restlichen Vormittag und die Mittagszeit hatte ich mit den anderen verbracht – Glenda, Crest, Elfi. Keine Ahnung, wie genau. Kaffee trinken, ein bisschen Werkzeug sortieren, irgendwas zusammenschrauben, was nicht hielt. Wir redeten wenig. Und jedes Mal, wenn einer von uns zur Brückenkante schielte, taten wir so, als wär’s wegen der Sonne.
Wir hatten gehofft, dass sie zurückkamen. Nicht alle. Vielleicht einer. Vielleicht Pandora, mit diesem Blick, den sie früher hatte, bevor der Biber kam. Oder Wojtek, der meistens doch zu doof war, um lange ernst zu bleiben. Oder Daggi, mit einem ihrer „Boah, was für ’n Scheiss“-Sprüche, gefolgt von einem Fluch auf die Esoterik.
Aber es kam nichts. Nur der Wind, der durch die Reifenstapel fegte. Und das Knacken von Crest, der mit einer Feder und zwei Kabelresten versuchte, irgendwas zu basteln, das er „Antennengriffel“ nannte. Glenda versuchte uns ihren neusten Kaffee aufzudrängen – diesmal angeblich mit Malzbier, Kümmel und einem Hauch von Zivilisationsmüdigkeit. Ich lehnte dankend ab. Elfi nippte. Dann fluchte sie.
„Die scheissen uns vor die Füsse, metaphysisch gesehen“, sagte Glenda und schleuderte einen Kronkorken in Richtung Schrottberg. „Und wir sitzen hier wie ’ne verdammte Bastelgruppe mit Burnout.“
Ich nickte nur. Ich wusste nichts zu sagen. Der Schrottberg wirkte heute leerer. Irgendwie… aufgeräumter, obwohl niemand ihn angerührt hatte. Vielleicht, weil sechs Paar Pfoten fehlten, die sonst lärmten, fluchten, stritten, lachten.
„Ich rede nachher mit Kupplung“, meinte Glenda. „Der kriegt mehr mit, als er zugibt.“
„Ich könnte die Funkfrequenz nochmal abtasten“, sagte ich. „Vielleicht… keine Ahnung. Vielleicht kommt was.“
„Oder wir rufen versehentlich den nächsten Biber herbei“, murrte Elfi. „Mit Klangschalen in der Unterhose.“
Crest sagte nichts. Aber seine Pfoten bewegten sich schneller. Nervöser. Wie bei jemandem, der sich selbst beweisen will, dass er noch was tun kann.
Es war Nachmittag geworden. Und keiner hatte was entschieden. Aber irgendwas in uns wusste: Das hier bleibt nicht so. Nicht, wenn wir nichts tun.
Nachmittag – Daggi
Ich hatte geschrieben. Stundenlang. Krakelige Sätze, manche mehrfach. Immer dasselbe in anderen Worten. „Ich bin nicht schuld, aber ich bin verantwortlich.“ „Meine Dunkelheit ist nur Licht, das warten muss.“ „Der Kreis sieht mich.“ Immer wieder. Die Pfote tat weh vom Druck, die Buchstaben wurden schwächer, die Gedanken leerer.
Manchmal schrieb ich so schnell, dass ich mich selbst nicht mehr verstand. Manchmal blieb ich minutenlang an einem Satz hängen. Ich wusste nicht mehr, ob es noch Gedanken waren – oder nur Wiederholungen. Wie ein Gebet. Nur dass ich nicht wusste, zu wem ich betete.
Der kleine Tisch im Raum war hart. Das Licht grell. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass es von oben her leise surrte – ein gleichmässiges, mechanisches Geräusch, das in der Stille lauter wurde. Ich blickte einmal hoch. Da war nur der Lichtkegel. Aber das Surren blieb.
Dann klopfte es. Zweimal. Die Tür öffnete sich nicht, aber ich wusste, dass ich aufstehen sollte. Mein Heft zitterte in der Pfote.
Draussen stand ein Kaninchen. Riesig. Weiss. Mit einer Brille, die wie eingefrorener Morgentau wirkte. Es lächelte.
„Du hast geschrieben“, sagte es. „Das ist gut. Die Worte sind nun nicht mehr in dir – sondern bei uns.“
Ich hielt das Heft fest. Einen Moment zu lang. Das Kaninchen streckte die Pfote aus, wartete. Keine Drohung. Nur Erwartung. Ich zögerte. Mein Innerstes lag da drin. Mein Dreck. Mein Licht. Mein… alles.
„Du darfst es loslassen“, sagte es. „Sonst kann der Kreis es nicht aufnehmen.“
Ich drückte es ihm in die Pfoten.
„Komm. Ich zeige dir deinen Schlafraum.“
Wir gingen einen Gang entlang. Der Boden war weich und schallgedämpft, wie stabiles Gummi. Die Wände grau. Kalt. Keine Fenster. Keine Bilder. Nur Ecken. Alles roch nach frisch gewischtem Nichts.
Mein Quartier lag in einer Reihe identischer Türen. Die Tür öffnete sich berührungslos. Innen: ein weiches Bett, exakt gemacht. Ein kleiner Spind. Ein grauer Block Papier und ein Stift auf dem Nachttisch. Eine weisse Decke mit einem eingestickten Kreis.
„Hier bist du sicher“, sagte das Kaninchen. „Die Tür schliesst automatisch. Sie öffnet sich, wenn du bereit bist.“
Ich fragte nicht, was das hiess. Ich nickte nur.
Dann führte es mich weiter. Wir gingen schweigend durch weitere Gänge. Irgendwo ertönte wieder dieses sirrende Geräusch. Ich dachte nicht weiter darüber nach.
Der Aufnahmeraum war gross. Kalt. Weiss. Kein Fenster. Nur ein Podest in der Mitte, rund, erhöht. Um das Podest: sechs Plätze, markiert mit Symbolen – Blütenformen, die wie Stromkreise aussahen. Ich erkannte Pandora. Benny. Milena. Branko. Wojtek. Sie sassen schon da, ruhig, wartend. Ich war die Letzte.
Ich setzte mich.
Dann trat der Biber ein. Mit Gardinenkutte, goldumrahmt. Er trug Handschuhe, die aussahen wie aus Glasfaserschaum. Oder wie chirurgisches Spielzeug. Und er lächelte. So, wie man bei einem Zahnarzttermin lächelt – zu freundlich, zu gezielt.
„Ihr habt geschrieben. Ihr habt geteilt. Nun erkennt der Kreis euch. Und nun… erkennt ihr euch.“
Er machte eine kleine Pause und suchte Blickkontakt mit jedem Einzelnen. Dann senkte er die Stimme – fast zärtlich.
„Heilung beginnt, wenn man zulässt, dass etwas an einem rührt. Nicht immer dort, wo es angenehm ist. Sondern dort, wo wir uns am stärksten verschlossen haben. Die Stellen, an denen wir Schmerz erwarten… sind oft die, an denen das Licht zuerst durchbricht.“
Er trat einen Schritt näher.
„Wir berühren nicht nur euren Körper. Wir berühren das, was euch davon abhält, euch selbst zu spüren. Der Kreis nimmt nicht – er befreit.“
Er ging zu jedem von uns. Nacheinander. Pandora berührte er unter dem Kieferkamm – dort, wo Leopardgeckos besonders empfindlich sind, weil dort Temperatur- und Balancewahrnehmung zusammenlaufen. Milena strich er mit zwei Fingern über die Schnabelbasis und den Kehlsack – eine Stelle, an der Krähen Instinkt, Futtererkennung und Kommunikation bündeln. Branko bekam einen Druck an der Schwanzwurzel – ein Bereich, in dem Füchse auf instinktive Weise Revier- und Bindungssignale verarbeiten. Bei Benny legte er zwei Finger auf den Unterbauch – direkt über dem Nervenknoten, wo bei Igeln Schutzreflexe ausgelöst werden. Und Wojtek, dem drückte er die Schulterblätter nach innen, so dass er kurz die Balance verlor – für Katzen ein Punkt maximaler Reizempfindlichkeit.
Keiner sagte etwas. Aber ich sah, wie sie zuckten. Wie sie ihre Körper nicht mehr ganz im Griff hatten.
Dann war ich dran.
Er packte mein Maul – nicht grob, aber bestimmt. Direkt unterhalb der Schnurrhaarbasis, wo jede Ratte mit Reflexen reagiert, weil dort die meisten Nervenenden zusammenlaufen. Dann fuhr er mir über die Flanken, in gleichmässigen Kreisen – genau über die Stelle, wo mein Herz rast, wenn ich aufgeschreckt werde. Zum Schluss legte er eine Pfote auf meine Seite, wo die Leber liegt – der Sitz von Angst, Galle und allem Unausgesprochenen.
„Ihr seit bereit“, sagte er. Und lächelte.
Wir bekamen Kleidung – grau, mit dem Kreissymbol auf der Brust. Kein Stoff mit Geschichte, kein Geruch, nichts Eigenes. Nur Gleichschritt in Stoffform.
Dann wurden wir geführt. Wieder ein Gang. Wieder eine Tür. Mein Zimmer – jetzt mein „zugewiesener Raum“ – roch neutral, funktional, leer. Ich legte mich auf die Matratze und zog die Decke mit dem Kreis über mich. Nicht aus Erschöpfung. Aus Ergebenheit.
Auf dem Nachttisch lag der Block, den ich schon zuvor gesehen hatte. Der Stift daneben wirkte plötzlich schwerer.
Daneben ein Zettel:
„Wenn es zu viel wird – schreib. Wir sehen dich.“
Ich las es zweimal. Dann schob ich den Zettel in den Spind und löschte das Licht.
Dunkelheit. Und das leise Surren von irgendwoher.
Kapitel 5 – Schleier und Splitter (Crest erzählt)
Morgen
Der Morgen kam wie immer: langsam, müde und mit der Hoffnung, dass wenigstens der Kaffee nicht wieder eine existenzielle Krise auslösen würde.
Glenda war gerade zurückgekehrt von ihrer morgendlichen Kaffeeschundjagd. Irgendwo zwischen Wertstoffhof und Teergrube hatte sie neue Zutaten aufgetrieben – und offenbar auch Klatsch. Ihre Thermoskanne dampfte verdächtig, während sie mit einer Plastikspritze einen Tropfen etwas Braunen hineintröpfelte, das aussah wie Gärung mit schlechter Laune.
„Heutiger Blend: Altöl, Kamillentee, Hustenbonbonrückstände und ein Schuss fermentierter Senfessig. Für innere Reinheit und aggressive Dankbarkeit“, sagte sie mit ernster Miene.
Zlatka nahm einen Becher, roch dran – und trank trotzdem. Ihre Augen zuckten leicht. „Schmeckt wie der Rand eines geplatzten Heizkörpers.“
Elfi verzog das Gesicht, nahm aber ebenfalls einen Schluck. „Ich glaub, ich kann jetzt Farben hören.“
Ich selbst winkte dankend ab. Meine Geschmacksknospen hatten sich noch nicht vom letzten Versuch erholt.
Glenda prostete uns zu. „Klarheit durch Konfrontation. Ihr werdet mir noch danken.“
„Nur falls meine Zunge abfällt“, murmelte ich.
Dann wurde Glenda ernst. „Auf dem Rückweg bin ich übrigens einer Maus begegnet. Weiss, komplett gaga. Leinengewand. Klangschalengürtel. Sprach von Türen, neuen Lichtern und ‚kosmischer Aufnahmefrequenz‘.“
„Und du bist einfach weitergelaufen?“ fragte Zlatka.
„Hab ihr gesagt, ich saufe lieber Benzin als an sowas zu glauben. Sie hat mich trotzdem gesegnet und mir ’nen Kieselstein mitgegeben. Der stinkt nach Lavendel und Selbstüberschätzung.“
„Okay“, sagte Elfi. „Was soll uns das jetzt sagen?“
Ich sah zu Zlatka. „Vielleicht… gar nichts. Oder alles. Funk? Vielleicht gibt’s wieder was.“
Sie nickte langsam. „Ich hör eh weiter. Dachte mir, vielleicht kommt die Stimme noch mal wider, die scheint ja mit all dem Mist irgendwie zutun zu haben. Hab’s gestern Nacht schon versucht. Nix. Aber… vielleicht heute.“
Ich selbst bastelte weiter an meinem Projekt: einem ausgehöhlten Ghettoblaster, in dem ich versuchte, mit einer Zahnbürstenmechanik und zwei alten Uhren ein mobiles Aufbewahrungssystem für Altteile ein zu bauen. Es funktionierte nicht. Aber meine Pfoten waren beschäftigt. Das reichte mir.
Dann piepte Zlatkas Gerät. Ein kurzes Summen. Dann: Rauschen. Dann – die Stimme.
Dumpf. Fern. Schleppend freundlich. Wie Honig über Draht geschmiert.
„Sechs neue Lichter wurden aufgenommen. Die Feder hat Harmonie gefunden. Der Drahtflüsterer hat endlich gelauscht. Die Flamme trägt nun Weisheit. Die Maske erkennt Klarheit. Die Stachelkrone schweigt – und sie… sie ist besonders offen. Ihre Bereitschaft erfüllt den Kreis mit Licht.“
Wir starrten das Gerät an. Keiner sagte etwas. Die Namen fielen nicht – aber jeder von uns hörte sie trotzdem.
Milena. Branko. Wojtek. Benny. Daggi. Und Pandora. Vor allem Pandora.
Glenda war bleich geworden. Elfi hielt ihren Becher fest. Ich ballte unbewusst eine Pfote zur Faust.
„Jetzt wissen wir’s“, sagte ich leise.
„Sie sind wirklich… drin“, murmelte Elfi. „Nicht nur bescheuert. Komplett eingesogen.“
„Sie haben sie wirklich, ich hatte bis jetzt gehofft, dass ich mir nur Zusammenhänge einbilde, wo keine sind.“, sagte Zlatka. Ihre Stimme klang nicht traurig. Sondern kalt. „Sie reden über sie wie über Besitz.“
Das Funkgerät verstummte. Nur das leise Rauschen blieb. Wie ein Echo des Wahnsinns.
„Ich will da rein“, sagte ich. „Ich will wissen, was da passiert.“
Glenda nickte. „Nicht heute. Aber bald. Wir brauchen einen Plan.“
Ich sah auf mein halbfertiges Mechanikding. Dann zum Funkgerät. Dann zum Himmel.
Der Tag war noch nicht vorbei.
Nachmittag – Crest
Nach der Funkbotschaft war alles still geworden. Nicht nur um uns – sondern in uns. Wir sassen da wie vier schlecht gelaunte Denkfehler mit Kaffeebechern. Glenda rührte mechanisch in ihrer Tasse, als wollte sie darin Antworten finden. Elfi kaute auf ihrem Plastikstrohhalm, den sie inzwischen zu einem Zylinder verbogen hatte. Zlatka starrte auf das Funkgerät, das längst wieder still war. Ich warf Muttern auf einen alten Lautsprecher, als wäre das ein Sport. Nichts passte. Nichts funktionierte.
Der Tag verging, ohne dass er richtig begann. Wir hatten noch nicht mal einen Streit angefangen. Das war bedenklich. Denn bei uns bedeutete Schweigen nicht Frieden – sondern, dass jemand die Hoffnung im Altöl versenkt hatte.
„Vielleicht“, begann ich und hörte mich selbst nicht glauben, was ich sagte, „vielleicht kommt jemand zurück. Nur einer.“
„Und sagt was? ‚Sorry, hab mich im Licht geirrt‘?“ Glenda schnaubte. „Die sind durch. Und wir stehen hier rum wie vergessene Dosen im Sondermüll.“
„Ich wünschte, ich könnte was basteln, das hilft“, murmelte ich. „Aber mir fällt nichts ein. Kein Hebel, kein Funke, nix.“
In dem Moment hörten wir ihn. Das Geräusch.
Ein Motor. Tief, kehlig, wütend. Kein Gosseknattern, kein Rasenmäher auf Crack. Das war… kernig. Und neu. Und dann kam sie angerollt: eine Harley – pechschwarz, verchromt, mit dem Klang eines Gewitters auf Speed. Alles an dem Teil schrie Autorität – oder zumindest „Haltet gefälligst die Fresse, ich bin wichtig.“
Der Fahrer stieg ab. Schwarze Lederjacke, Helm im Totenkopfdesign, Stiefel wie aus einem Dystopie-Baukasten. Er nahm den Helm ab. Und grinste.
„Kupplung“, sagte Glenda und verschränkte die Pfoten. „Ich dachte, wir wären dir egal.“
„Wart ihr mir auch. Dachte ich zumindest“, sagte er. „Aber dann hab ich gehört, dass ihr nur noch zu viert seid. Und dass sechs von euch… weg sind.“
Ich blinzelte. „Und das hat was mit dir zu tun, oder wie?“
Er wurde ernst. „Ja. Weil ich weiss, wohin sie gegangen sind. Und was da passiert. Ich war dort. Ganz am Anfang.“
Elfi hob eine Augenbraue. „Was ist das überhaupt?“
„Sie nennen sich der Kreis des Lichtes, kurz einfach nur der Kreis.“, sagte er ruhig. „Damals war die Truppe kleiner. Fast harmlos. Ein Haufen verlorener Seelen auf Sinnsuche. Dann wurden es immer mehr Mitglieder. Die Regeln wurden Härter. Kontrollierter. Ich hab irgendwann kapiert, dass das kein Ort für Freiheit ist. Also bin ich gegangen.“
„Aber wie?“ fragte Zlatka. „Die lassen doch bestimmt niemanden einfach so gehen.“
„Ich bin bei Nacht und Nebel untergetaucht. Hab Kontakte gekappt, meinen Namen geändert, alles zurückgelassen. Sie wissen nicht, was mit mir passiert ist. Vielleicht denken sie, ich sei gestorben. Oder entführt worden. Ich weiss es nicht. Nur: Sie suchen nicht mehr nach mir.“
„Und warum hast du nichts unternommen?“ fragte Glenda. „Wenn du das alles wusstest?“
Er sah auf den Boden. „Weil ich Schiss hatte. Ich dachte, wenn ich einfach abhau, ist es vorbei. Und vielleicht war’s das auch – für mich. Aber nicht für alle anderen. Ich hab’s ausgeblendet, weil ich nicht der Held bin, den man in den Kampf schickt. Ich war nur froh, weg zu sein.“
„Und jetzt?“
„Jetzt betrifft es euch. Die Einzigen, mit denen ich je wirklich was verbunden hab. Auch wenn wir nicht viel miteinander zu tun hatten – ihr wart… real. Das hab ich gesehen, als ihr eure Maschinen gebaut habt. Ihr wart einfach … Ehrlich. Und wenn
Elfi sagte nichts. Glenda schnaubte. „Also? Willst du jetzt hierbleiben? Ein richtiger Teil der Truppe sein?“
Er hob den Kopf. „Wenn ihr mich lasst.“
Ich schlug bei ihm ein. Elfi hob ihren Becher. Zlatka nickte. Und Glenda? Goss ihm Kaffee ein. Ohne Kommentar. Nur mit einem schiefen Lächeln.
Wir hatten einen Neuen. Einen Alten. Und vielleicht… zum ersten Mal einen, der wusste, wie die andere Seite aussah.
Wir verzogen uns ins Zelt. Es war nicht schallsicher, aber immerhin war’s Glendas und mein Revier – und Pandoras, wenn sie noch da wär. Niemand würde ohne Einladung reingehen. Und manchmal, das reicht. Nicht weil es schützt – sondern weil’s sich anfühlt, als ob.
Drinnen roch es nach Thermoskannendampf, Werkzeugöl und zu viel Vergangenheit. Wir sassen im Kreis – Glenda, Elfi, Zlatka, ich – und der Typ, den wir bis eben nur als Kupplung kannten. Kein offizieller Titel, kein Handschlag. Nur dieses stille: Du bist jetzt einer von uns.
Es dauerte einen Moment, bis jemand was sagte. Wir wussten alle, dass jetzt was passieren musste – aber niemand wusste, was. Oder wie. Oder wann. Oder ob überhaupt.
„Wir haben keine Namen“, begann Glenda plötzlich. „Nicht mehr. Nicht alle. Nur Spitznamen, Flüche und Kaffeesorten. Aber du… Kupplung… du bist jetzt hier. Also mach kein Geheimnis draus. Wie heisst du wirklich?“
Er sah kurz zu Boden. Dann in die Runde. Und schliesslich sagte er:
„Thjark.“
Elfi runzelte die Stirn. „Nordisch? Klingt wie… Runen mit Rückgrat.“
„Klingt wie jemand, der was verloren hat“, murmelte Zlatka.
Er nickte. „Ich war drin. Im Kreis. Damals war es noch kleiner. Verlorene Seelen mit zu viel Hoffnung. Ich dachte, ich find da Halt. Aber irgendwann kippte es. Kontrolle. Angst. Zwang. Ich hab mich rausgeschlichen, Namen geändert, alles hinter mir gelassen.“
„Und trotzdem hast du nichts gemacht?“, fragte Elfi. Nicht vorwurfsvoll. Eher… leise.
„Ich hab mich nicht getraut“, sagte er. „Ich dachte, wenn ich einfach verschwinde, hört’s für mich auf. Vielleicht denken die, ich wär tot. Vielleicht entführt. Ich weiss es nicht – nur, dass sie mich nicht mehr suchen.“
Er machte eine Pause. Atmete hörbar aus.
„Ich hab nie geglaubt, dass ich was tun könnte. Ich war kein Held. Ich war nur einer, der zu früh geglaubt hat und zu spät gekniffen hat.“
„Und jetzt?“
„Jetzt habt ihr was verloren. Und ich seh euch – wie ihr trotzdem noch steht. Wie ihr trotzdem was seid. Vielleicht mehr als die meisten. Und… ich weiss, ich bin spät. Aber lieber spät als gar nicht.“
Ich nickte langsam. Glenda klopfte ihm auf die Schulter. Zlatka sagte nur: „Dann zeig uns, was du weisst.“
Er beugte sich vor. Griff in seine Jacke, holte ein altes, eingerissenes Stück Papier hervor. Eine Skizze? Ein Lageplan? Schwer zu sagen. Er schob ihn uns hin.
„Ich hab mir was zusammengereimt. Alte Standorte. Versorgungsrouten. Übergabepunkte. Vielleicht ist da was dabei. Vielleicht… können wir ihnen näherkommen.“
Wir beugten uns alle nach vorne. Die Karte war unleserlich, voller Kritzeleien, Pfeile, Notizen. Aber irgendwas daran fühlte sich… richtig an.
„Wir brauchen mehr“, sagte Glenda. „Mehr Infos. Mehr Ideen. Mehr Wahnsinn.“
„Und einen Plan“, fügte ich hinzu.
„Wir haben einen“, sagte er. „Noch keinen fertigen. Aber einen, der atmet.“
Keiner fragte, was er meinte. Keiner musste. Denn in diesem Moment wussten wir alle: Etwas war in Bewegung geraten.
Und wenn es erst mal läuft – dann läuft’s bis zum Ende.
Bennys Tag, – am morgen
Ich war früh wach. Nicht weil ich musste – sondern weil mein Körper beschlossen hatte, dass Schlaf hier offenbar Luxus ist. Die Matratze war zwar weich, aber irgendwie falsch. Wie eine Umarmung von jemandem, der weiss, wo deine Schwächen liegen.
Ein Gong ertönte. Kein schrilles Ding-Dong, eher ein dumpfer Klang, der sich durch die Eingeweide zog. Ich stand auf. Zog mir die Uniform an. Grauer Stoff und der Kreis auf der Brust. Keine Taschen. Keine Wärme.
Die Tür öffnete sich automatisch. Davor stand ein Iltis in gleicher Kleidung, mit einer Stimme wie Sandpapier in Watte. „Folge mir. Heute ist ein guter Tag für Klarheit.“
Ich sagte nichts. Mein Herz schlug schneller. Aber nicht aus Angst. Eher… aus Neugier.
Wir gingen durch die Gänge. Vorbei an identischen Türen, identischen Lampen, identischen Gerüchen. Alles hier war so gleich, dass jede Abweichung sich anfühlte wie ein Schrei in der Stille.
Der Trainingsraum war gross. Weiss. Der Boden war aus gepolstertem Gummi. An den Wänden: Symbole des Kreises, schwebend projiziert. Im Zentrum: fünf Tiere in Uniform, bereits in Position. Darunter Milena und Wojtek. Pandora war nicht da. Daggi auch nicht. Branko stand etwas abseits.
„Heute lernt ihr, was euer Körper euch sagen will“, sagte der Iltis. „Widerstand ist ein Geschenk. Er zeigt euch, wo ihr euch selbst blockiert.“
Es folgte eine Abfolge körperlicher Übungen. Kein Fitnessquatsch. Sondern etwas dazwischen: Dehnen bis zur Grenze. Halten von Positionen, die die Muskeln zittern liessen und wehtaten. Kreislaufbelastungen gehörten natürlich auch dazu. Immer wieder brüllte Jemand diesen Satz:
„Wenn du wachsen willst, musst du brechen.“
Wir mussten Kopfstände halten. Unsere Rücken anspannen. Atemübungen unter Spannung machen. Ich rang nach Luft. Mir wurde schwindlig. Aber ich wollte nicht der Erste sein, der aufgab.
Milena wankte. Ein Hamster mit Stirnband kam zu ihr, legte eine Pfote auf ihren Rücken und murmelte: „Du bist gut. Noch drei Atemzüge.“
Dann war ich dran. Der Iltis kam näher. Legte mir die Pfote auf den Bauch. Direkt auf den Muskelknoten, wo mein Schutzinstinkt sitzt. Er drückte leicht. Ich zuckte – und hielt stand.
„Du hast Angst“, sagte er. „Aber sie ist nicht deine. Sie wurde dir gegeben. Lass sie gehen.“
Ich sagte nichts. Ich schwitzte. Und lächelte trotzdem. Ich wollte dazugehören.
Dann mussten wir im Kreis laufen. Immer schneller. Einer nach dem anderen. Kein Rennen. Ein kontrolliertes Kreisen. Wieder und wieder. Meine Gelenke brannten. Aber ich machte mit.
„Ihr bewegt euch wie ihr denkt“, sagte eine Stimme aus einem Lautsprecher. „Ihr spürt euch. Ihr formt den Kreis in euch selbst.“
Irgendwann fiel Wojtek hin. Ein Kaninchen hob ihn wortlos auf. Kein Vorwurf. Nur dieses stumme Weiterlaufen.
Nach zwei Stunden war mein Körper ein einziger Muskelkater in Vorbereitung. Aber niemand klagte. Keiner fragte, warum. Wir waren Teil von etwas grösserem. Dachten wir.
Zum Abschluss bekamen wir warmen Lavendeltee. „Damit du weich wirst, wo du hart warst“, sagte jemand.
Ich trank. Und fühlte mich… leer. Aber in einer Art, die sich wie Frieden anfühlte.
Dann gingen wir schweigend zurück in unsere Zimmer. Der Iltis nickte mir zu, bevor er verschwand. In meinem Quartier lag ein neuer Zettel.
„Du warst heute auf dem Weg. Am Abend wirst du ankommen.“
Daneben stand ein Tablett. Darauf befanden sich ein Becher mit lauwarmem Kräuterzeug, zwei Reisklumpen und etwas, das wie gedämpfte Gemüsestückchen aussah – zu formgenau, um echt zu wirken. Ich hatte Hunger, also ass ich. Es schmeckte neutral. Nicht gut, nicht schlecht. Wie ein Gespräch, bei dem alle reden, aber Niemand wirklich etwas sagt.
Kaum war der letzte Bissen weg, blinkte ein Licht über der Tür. Ein Kaninchen erschien, wieder weiss, wieder wortlos. Es reichte mir ein Handtuch – und wartete. Ich stand auf und folgte ihm.
Der Weg führte uns durch neue Gänge. Alles gleich weiss, gleich glatt, gleich nichtssagend. Ich wusste nicht, ob ich in einen anderen Flügel kam oder nur im Kreis lief. Dann eine Tür, die sich wie von selbst öffnete. Dahinter: Duschen. Keine Vorhänge. Keine Armaturen. Nur Rohre in der Wand, aus denen eiskaltes Wasser direkt auf mich prasselte.
Ich duschte. Nicht weil es mir jemand sagte – sondern weil es offensichtlich das war, was hier jetzt passieren sollte. Mein Fell klebte an mir, und ich fröstelte. Der Boden war glatt, das Wasser roch nach Desinfektion und Entsagung. Anschliessend trocknete ich mich ab. Das Kaninchen reichte mir ein neues Set Kleidung, dass genau so aussah wie jenes, das ich vor dem Duschen abgelegt hatte.
Dann ging es weiter. Ein langer Gang. Immer weiter. Weisse Türen. Kein Hinweis, wo ich war. Nur das Licht: steril, gleichmässig, unangenehm genau.
Ein Raum. Weiss, wie alles andere. Ein Tisch. Ein Spind. Und sechs Stühle. Die anderen waren schon da. Ich erkannte ihre Silhouetten sofort – Pandora, Branko, Milena, Wojtek, Daggi. Keine Begrüssung. Kein Nicken. Nur Präsenz. Als hätten sie auf mich gewartet.
In der Mitte des Raumes: ein kleiner Kasten mit einem Knopf. Daneben: eine Schildkröte. Weiss. Wie aus Porzellan gegossen. Ihre Bewegungen waren ruhig, fast klinisch. Ihr Blick: nüchtern wie ein leerer Medikamentenbecher.
„Willkommen zur Spiegelzeit“, sagte sie. „Hier sprechen die Schatten. Aber nur, wenn du sie lässt.“
Wir setzten uns. Ich zwischen Milena und Wojtek. Pandora schräg gegenüber. Sie wirkte ruhig. Zu ruhig. Branko starrte auf seine Pfoten. Daggi rieb sich ununterbrochen über die Seite, als hätte sie dort noch eine Erinnerung an Schmerz kleben.
Die Schildkröte tippte auf den Knopf. Eine Stimme erklang. Kein Lautsprecher zu sehen – natürlich.
„Heute lasst ihr eure alten Namen los. Sagt sie. Ein letztes Mal. Und was sie bedeuten.“
Ich schluckte. Niemand sagte etwas. Dann hob Milena die Pfote. „Ich war Milena. Ich war Lärm. Ich war Angriff. Ich habe gekämpft, weil ich nicht wusste, wie man bittet.“
Stille. Dann nickte die Schildkröte. Und der Kasten leuchtete einmal kurz blau auf. Warum – wusste keiner. Aber es bedeutete wohl: Richtig.
Dann Wojtek. „Ich war Wojtek. Ich hab gefressen, um Leere zu füllen. Ich hab gebrüllt, um mich nicht zu hören. Ich hab gewartet, dass jemand kommt – aber nie gesagt, dass ich da bin.“
Blaues Licht. Wieder Stille.
Ich hörte mich selbst sprechen, bevor ich es wollte. „Ich war Benny. Ich hab versucht, clever zu sein, damit ich keiner sein musste. Ich hab gelächelt, wenn ich kotzen wollte. Und ich hab geschwiegen, wenn ich was sagen sollte.“
Die Schildkröte nickte. Der Kasten leuchtete. Wieder blau.
Danach Daggi. Dann Branko. Dann – Pandora. Sie sagte nur: „Ich war Pandora. Und ich bin bereit.“
Der Kasten leuchtete weiss. Nur bei ihr. Kein Blau. Weiss. Die Schildkröte sah sie lange an. Dann lächelte sie. Ganz leicht. Und ich hasste, wie mich das verunsicherte.
„Jetzt tauscht ihr“, sagte sie. „Sagt einem anderen, was ihr denkt, dass er versteckt. Nicht um zu verletzen. Sondern um zu zeigen: Wir sehen euch.“
Es wurde unangenehm. Richtig unangenehm. Milena sah Wojtek an und sagte, dass er Angst vor Nähe habe. Branko sagte zu mir, ich würde nie etwas zu Ende bringen, weil ich Angst hätte, etwas wirklich zu wollen. Daggi warf Pandora vor, dass sie sich ins Zentrum drängte, nur um nicht allein zu sein. Und Pandora… sah nur. Und schwieg. Bis sie zu Branko sagte: „Du willst geführt werden. Aber niemand soll es merken.“
Ich fühlte mich nackt. Nicht körperlich. Nicht im Raum. Sondern… innen. Wie ein aufgeschlitzter Brief voller falscher Nachrichten.
Am Ende lagen neue Kleidungspakete auf den Stühlen. Andere Farben – beige statt grau. Leichter Stoff. Kein Symbol. Nur ein Namensschild. Mit einem Platzhalter.
„Eure neuen Namen werdet ihr empfangen, wenn ihr bereit seid“, sagte die Schildkröte. „Bis dahin… seid ihr Niemand.“
Ich hasste das. Aber ich sagte nichts.
Denn etwas in mir… wollte dazugehören.
⚠️ Triggerwarnung: Diese Szene enthält explizite Gewalt, psychische Zermürbung, blutige und körperlich sowie seelisch verstörende Übergriffe. Nicht geeignet für sensible Leser:innen oder Menschen mit Gewalterfahrungen.
Abend – Benny
Die Schildkröte beendete mit einem simplen Nicken die Sitzung und sagte nichts mehr. Sie öffnete nur eine Tür. Dahinter: ein Gang, länger als die anderen. Kälter. Steriler. Jeder Schritt klang wie ein Fehler, der sich wiederholte.
Wir liefen hinter ihr her. Niemand sprach. Kein einziges Wort und kein heimlich getauschter Blick. Nur der Geruch: Desinfektionsmittel, Metall und etwas Bitteres darunter. Irgendwas an diesem Gang sagte mir: Hier geht niemand freiwillig durch.
Am Ende des Ganges lag ein runder Raum. Fensterlos, Sechs Liegen im Kreis und keine Matratzen. Nur kaltes, glattes Metall – mit Halterungen. Für Pfoten. Flügel. Schwänze. Es roch nach Blut, das zu oft weggeputzt wurde.
In der Mitte des Raumes erwartete uns der Biber. Seine Gardinenkutte war heute mit Goldfäden durchzogen. Seine Handschuhe glänzten. Nicht wie Gummi – wie etwas, das aus Metal besteht und schneiden will.
„Ihr habt euch geöffnet“, sagte er. „Jetzt nehmen wir, was noch bleibt. Nur Schmerz kann brechen und befreien.“
Wir wurden fixiert. Ich auf der dritten Liege. Milena gegenüber. Pandora neben mir. Branko weiter hinten. Keiner sagte ein Wort. Keiner zuckte. Aber ich hörte ihren Atem – kurz, gepresst, als würde jeder von ihnen fern gesteuert werden.
Er begann mit Milena und Drückte ihre Flügel runter auf den Tisch, die Liege, keine Ahnung wie das Ding hiess. Dann schnitt er mit einer kleinen Klinge, die präzise war wie ein gezielter Vorwurf in eine empfindliche Stelle an ihrem Flügel. Sie schrie nicht – sie kreischte. Aus ihrem Federansatz trat Blut – nur wenig, aber es roch nach Schmerz und Leid. Ihre Flügel zuckten und die Federn fielen zu Boden wie der letzte Schimmer der Hoffnung, den man somit auch verloren geben musste.
Wojtek bekam die Krallen gespreizt – mit kleinen Keilen. Dann ein Schnitt unter den Schulterblättern. Nur flach, aber genau da, wo sich seine Muskeln zusammenziehen wollten. Er jaulte. So, wie Katzen nur schreien, wenn man ihnen das Gleichgewicht entreisst.
Branko wurde an der Schwanzwurzel gepackt. Er zitterte nicht. Bis der Biber dort zudrückte – und die Haut aufriss. Kein Schnitt. Nur Druck. Und dann Blut. Rot. Dampfend. Branko biss sich in die Pfote, um nicht zu schreien – und verlor trotzdem diesen Kampf.
Daggi war dran. Der Biber setzte eine kleine Zange an ihre Flanke. Direkt an den Schmerzpunkt. Dann: ein Ruck. Ich hörte ein Geräusch, das nicht zu ihr passte. So ein Laut zwischen Würgen und Zischen. Sie wand sich. Und ich sah Blut. Tropfend. Dunkel.
Ich war als Nächstes dran.
Ich zitterte. Eine Halterung an meinem Bauch wurde zu gedrückt. Genau über meinem Reflexknoten. Dann bohrte sich etwas Spitzes hinein. Nicht tief. Aber tief genug. Ich sah nichts – aber ich roch es. Mein eigenes Blut. Warm. Metallisch. Echt.
Ich schrie nicht. Ich hatte keine Stimme mehr. Nur dieses Rauschen in den Ohren. Wie Funk ohne Frequenz.
Und dann – Pandora.
Er trat an sie heran. Beugte sich über sie. Flüsterte: „Du warst bereit. Jetzt wirst du klar.“
Seine Pfote fuhr ihr über den Kieferkamm. Sanft. Dann grob. Dann zu grob. Ich hörte etwas knacken. Sie schrie. Nicht wie ein Tier. Wie etwas, das stirbt und trotzdem weiterlebt.
Dann küsste er sie. Auf die Stelle, wo Geckos ihren Geruchssinn haben. Und während sie noch schrie, drückte er mit zwei Krallen gegen ihre Flanken. Fester. Immer fester. Sie zuckte. Dann… sackte sie in sich zusammen. Nicht tot – aber leer. Wie ausgewechselt. Ihre Augen starrten ins Nichts, als hätte man das Lebenslicht aus ihr rausgerissen.
Der Biber trat zurück. „Sie ist bereit.“
Dann blickte er in die Runde. „Ihr habt durchgehalten. Ihr seid gebrochen – und nun formbar. Erhebt euch.“
Wir standen auf. Langsam. Zittrig. Jeder von uns blutete irgendwo.
Und dann sprach er unsere neuen Namen aus. Einer nach dem anderen. So absurd, dass sie sich einbrannten wie Brandzeichen aus Grossmutters Namenslexikon.
„Milena. Von heute an heisst du Kunigunde.“
„Wojtek. Du bist jetzt Ottokar.“
„Branko. Dein Name sei Baldurich.“
„Daggi. Du bist nun Gundula.“
Er sah mich an. „Benny. Du bist jetzt Eberhardt.“
Dann drehte er sich um. „Sie“, sagte er leise über Pandora, „hat ihren Namen verloren. Und wird ihn nicht vermissen.“
Milena trat nach vorn und befreite Pandora vorsichtig aus der Halterung. Sie liess ihren Blick traurig durch den Raum gleiten und trug sie hinaus. Niemand hielt sie auf.
Die Tür öffnete sich. Wir anderen wurden entlassen. Ohne Worte. Ohne weitere Anweisungen, aber das war auch gut so, wir mussten erst einmal unsere Wunden lecken.
als ich zurück in meinem Quartier war, erwartete mich ein neues Paket mit Kleidung. Darin: ein weisser Anzug. Das Symbol auf der Brust stellte ein Auge im Kreis dar.
Daneben lag wieder ein Zettel:
„Du hast durchgehalten. Jetzt beginnt dein Schicksal.“
Ich starrte den Zettel lange an. Dann zerknüllte ich ihn – und warf ihn und mich wütend und verzweifelt aufs Bett. Ich war zu müde für Rebellionen.
Kapitel 6 – Tarnung, Teer und Thjark (Kupplung erzählt)
Der Morgen unter der Brücke war grau wie meine Vergangenheit – und roch auch ungefähr so. Es stank nach Altölkaffee, seltsamen Dünsten aus der Thermoskanne und Realität. Glenda hatte schon wieder was zusammengebraut. Diesmal nannte sie es „Brühwürfelsaft der Erkenntnis“, aber der wahre Star des Morgens war die Zutat, die alles ruinierte:
Wurstwasser.
Kein frisches, wohlgemerkt. Sondern altes. Aus einem Glas mit aufgedunsenen Mini-Würstchen, das sie „beim letzten Einbruch in eine Klosterküche“ gefunden hatte. Sie hatte es mit Essig angesetzt, weil sie meinte, „Reifung durch Säure“ sei das neue Trendgetränk.
„Altölkaffee mit Wurstwassershot, ein Löffel Kartoffelsalat vom Vortag und 2 Schlucke Sauerkrautsaft.“, erklärte sie und grinste. „Für den nötigen Säure-Biss und die bakterielle Überraschung.“
Ich nahm den Becher. Und trank. Aus Respekt. Oder Masochismus. Wahrscheinlich war es beides. Das Zeug schmeckte wie ein geplatztes Würstchen in der Spülmaschine einer Munitionsfabrik.
„Jo“, sagte ich. „Schmeckt wie Fusskäse. Aber mit Nachgeschmack.“
Elfi verzog das Gesicht. „Meine Zunge ist jetzt religiös.“
Zlatka hob die Augenbraue. „Sie hat sich halt nach was Höherem gesehnt.“
Wir lachten. Kurz. Dann wurde es still. Alle sahen mich an.
„Also“, begann Glenda, „was wissen wir? Und was tun wir?“
Ich nickte langsam. Zog den zerknitterten Lageplan aus der Jacke und breitete ihn aus. Kreise, Pfeile, winzige Notizen, verwischte Erinnerungen. Nichts davon war schön. Aber echt.
„Sie haben ein Aussentor“, sagte ich. „Für Lieferungen. Neue Mitglieder. Austausch von… was auch immer. Ich nenn’s den Vorhof. Das ist der einzige Ort, wo man als Aussenstehender überhaupt rein kann – wenn man glaubt. Oder gut spielt.“
Ich deutete auf einen Punkt am Rand. „Hier. Da geh ich rein. Als Hund.“
Elfi prustete. „Als was?“
„Hund. Gossenmischling. Nicht dreibeinig, das wär zu auffällig – aber verlaust, schiefer Blick und voller Überzeugung. Nennt sich Seppi.“
„Seppi?!“
Ich nickte ernst. „Hab das Kostüm gestern Nacht aus ’nem alten Teppich, Kleister, Motorsilikon und echtem Flohbefall zusammengenäht. Sieht überzeugend aus. Riecht schlimmer.“
Glenda legte die Stirn in Falten. „Du willst also da rein… als verlauster Mülleimerhund… und dann?“
„Dann sprech ich jemanden an. Vielleicht läuft da ja ein Frischling rum, der sich wichtig machen will. Ein Werter oder so. Irgendeiner, der denkt, er wär der Prophet persönlich, wenn er wen reinbringt. Das Tor hat Fenster, also seht ihr mich noch und ich kann euch Zeichen geben.“
Zlatka schnaubte. „Und wenn das klappt?“
Ich zeigte auf einen weiteren Punkt. „Dann bin ich im Vorhof. Mehr nicht. Bis dahin – kann ich noch per Pfotenzeichen mit euch kommunizieren. Bewegungsmuster zeigen oder euch signalisieren, wer mit wem redet. Vielleicht sogar jemanden markieren, wenn sich’s ergibt. Aber sobald ich durch den nächsten Korridor bin… bin ich allein.“
Ich sah sie nacheinander an. Glenda, Elfi, Crest, Zlatka. Meine neuen Irrtümer. Meine alten Hoffnungen.
„Da drin kann mir keiner helfen. Keine Funkverbindung. Kein Rückzug. Nix.“
Ich atmete tief durch.
„Bis zum Vorhof können wir’s kontrollieren. Danach… gibt’s drei Optionen: Ich hab Glück und finde die anderen. Ich hab Pech und flieg auf. Oder ich hab richtig Pech… und bleib für immer Seppi.“
Elfi war bleich geworden. „Und was machst du, wenn du drin bist? Wenn du sie findest?“
„Dann red ich mit ihnen, schürf an der Fassade und such Risse. Ich versuche, irgendwen zu wecken. Vielleicht Milena. Vielleicht Pandora, falls da noch was von ihnen übrig ist.“
„Und wenn nicht?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Dann muss ich halt… improvisieren. Oder draufgehen. Ist ja nicht so, als wär das neu für mich.“
Ein paar Sekunden lang war niemandem nach Witzen zumute. Der Wind rauschte über die Brücke, als hätte er was dagegen, dass wir Pläne machten.
Dann murmelte Crest: „Thjark…?“
Ich hob den Kopf. „Nenn mich nicht so.“
„Aber das ist dein Name.“
„War mein Name. Ist lange her. Und wenn die ihn da drin hören – dann fliegt alles auf. Kupplung ist sicherer. Gewohnter. Und… passt besser.“
Glenda nickte langsam. „Gut. Dann eben Kupplung.“
Ich sah auf die Karte. „Wir machen das heute. Keine Zeit verlieren. Kostüm, Signale, Rückzugsplan – alles steht. Wenn’s richtig eng wird, braucht ihr was, woran ihr mich erkennt.“
„Was denn?“ fragte Elfi.
Ich grinste. „Ich hatte mal ’nen Hund. Seppi. Sah aus wie das da.“
Ich deutete auf das zusammengeflickte Kostüm, das ich in einem durchsichtigen Müllsack mitgebracht hatte. „Verlaust, halb blind vor Dummheit, aber mit einer Glitzerplakette an der Brust. Die hab ich ans Kostüm genäht – von aussen kaum sichtbar, aber wer sie kennt, weiss Bescheid.“
„Und wo genau?“
„Linke Brustfalte. Zwischen dem Filz und dem Dreck.“
Glenda nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und Verzog das Gesicht. „Schmeckt nach Schuldgefühlen und Tankstellenromantik.“
„Passt also zur Mission“, sagte ich.
Und dann war’s still. Nur der Wind pfiff leise. Und irgendwo in der Ferne erahnten wir den ersten Sturm von dem, was kommen sollte.
Ich trank den letzten Schluck, verzog das Gesicht und schluckte das Grauen hinunter wie einen Gedanken, der besser ungedacht geblieben wär.
„Na gut“, murmelte ich und zog den Müllsack näher zu mir heran. „Zeit für das Schaf im Hundepelz.“
Ich riss die Tüte auf. Ein modriges Etwas fiel heraus – ein unförmiger Teppich, zusammengetackert, mit aufgeklebten Ohren, einem schiefen Maul und Flusen wie aus einem alten Trocknersieb, das keiner je geleert hatte. Als ich das Ding hochhielt, löste sich irgendwo ein Floh und sprang zu Boden. Crest klatschte instinktiv mit der Pfote darauf und Verfehlte.
„Das da“, sagte ich mit zusammengepressten Zähnen, „ist Seppi. Und ich hasse ihn jetzt schon.“
Ich zwängte mich in das Ding. Es kratzte wie Glaswolle in der Hölle. Der Geruch war eine Mischung aus altem Käse, muffigem Keller und gescheiterten Entscheidungen. Und irgendwo hinten drin… klemmte ein Stück Teppich, das vermutlich nie für Körperkontakt gedacht war.
„Wenn ich in dem Ding sterbe“, knurrte ich, „schreibt bitte auf meinen Grabstein: ‚Hier ruht Seppi. Lausiger als das Leben.‘“
„Hier ruht Kupplung“, sagte Crest trocken, „alias Seppi, Held des Gestanks.“
„Schon gut“, sagte ich. „Jetzt passt auf.“
„Zlatka, du bleibst an der Brücke. Funkkontakt halten. Wenn einer zurückkommt oder sonst etwas passiert, muss einer zuhören.“
„Mach ich.“
„Crest – du gehst bis zur Kreuzung und nimmst den alten Spiegel von dem Roller da mit. Der reicht, um um die Ecke zu spähen. Ich brauch deine Augen am Tor. Wenn sich jemand verdächtig benimmt, sollten die anderen es wissen.“
Er nickte, schnappte sich das schrottige Teil und schulterte seinen Rucksack, angefüllt mit Schrott. „Bin schon unterwegs.“
„Glenda, du bleibst auf den Pfoten. Wenn die Funkverbindung reisst oder Crest was sieht, aber nicht zurück kann – dann bist du unsere Botin. Du kennst die Abkürzungen. Und du rennst, als wär dein Arsch in Flammen.“
Sie grinste schief. „Charmant. Aber fair.“
„Und Elfi…“
Ich sah zu ihr hoch. Sie sass bereits auf einem Rohr über uns, die Flügel leicht gespreizt, bereit zum Start.
„Bevor du in den Luftraum gehst – trommel ein paar Tauben zusammen. So viele du kriegen kannst. Je grösser der Schwarm, desto besser. Manche von uns sind zu schwer für einen einzelnen Vogel. Wir brauchen Transportkapazität.“
Elfi nickte. „Klar. Die Stadttauben schulden mir eh noch Gefallen. Ich flieg kurz los und bin rechtzeitig zum Showdown wieder da.“
Ich nickte. „Danach patrouillierst du über dem Gelände. Hältst Augen und Ohren offen – für alles, was krumm ist. Und für mich. Wenn ich’s schaffe, komm ich mit den anderen auf den Balkon im zweiten Stock. Wenn du uns da siehst, hol uns raus.“
„Verstanden. Abfangbereit mit Schwarm im Schlepptau.“
„Entscheide selbst, wohin du fliegst, wenn’s brennt – Crest, Zlatka, Glenda. Oder direkt zu mir.“
Sie nickte nochmal, ein Flügelschlag wie ein Versprechen – dann war sie schon unterwegs.
Ich richtete mich auf, wackelte einmal mit dem Schweif, der aussah wie ein nasser Mob, und zog die Kapuze übers Gesicht. Aus dem alten Teppich lugten jetzt nur noch zwei leicht verdreckte Glaslinsen – meine Augen. Der Rest war Seppi. Hässlich. Halb zerfallen. Glaubwürdig.
„Dann los“, sagte ich. „Bevor ich’s mir anders überleg.“
Wir verliessen die Brücke wie Schatten, einer nach dem anderen. Im Gebüsch verstummten die Vögel. Der Asphalt war feucht vom Morgentau. Die Welt roch nach Eisen und Erwartung.
Am Rand der Gasse, wo der Vorhof lag, blieben wir stehen. Ich trat vor. Rieb noch etwas Schmutz in mein Fell. Spuckte mir in die Pfote und schmierte mir damit übers Gesicht. Etwas Glitzerte kurz in der Sonne – die Plakette. Dann war alles ruhig.
„Seppi meldet sich zum Dienst“, murmelte ich.
Und dann trottete ich los. Auf vier Pfoten. Direkt ins Maul des Wahnsinns.
Wojtek – Morgen
Ich wurde vom selben scheppernden Ton geweckt wie gestern. Dieselbe Reihenfolge, dieselben Abläufe, dieselben Klamotten – als hätte jemand die Zeitscheibe einfach zurück auf Anfang gedreht. Nur dass ich heute nicht wie betäubt in die Bewegungen fiel. Heute spürte ich alles. Die feuchte Luft im Raum, das kalte Linoleum unter meinen Pfoten, selbst das Kribbeln im Magen. Es war kein Hunger. Es war Unruhe.
Der Weg zur Sporthalle führte durch dieselben Gänge wie am Vortag, aber diesmal nahm ich sie anders wahr. Als würde jeder Schritt auf einem unsichtbaren Prüfstand stattfinden. Die Luft schien schwerer, dichter, als würde sie mehr wiegen als sonst.
In der Halle war bereits alles vorbereitet: Matten, Seile, Reifen, Bänke. Ich kannte die Routine – aufstellen, verbeugen, warten. Doch diesmal lag etwas in der Luft, das sich nicht abschütteln liess. Es vibrierte wie ein fernes Gewitter, noch nicht da, aber spürbar.
Dann trat der Biber vor die Gruppe. Die Gardinenkutte raschelte bei jedem Schritt, als würde er absichtlich mehr Stoff mit sich tragen, um gewichtiger zu wirken. Seine Stimme war lauter als sonst, aufgeladen mit irgendeiner theatralischen Energie.
„Er kommt.“
Stille. Ein kollektives Luftanhalten. Kein Rascheln mehr, kein Scharren. Nur gespannte Leere.
„Unser Licht. Unser Lehrer. Unser Führer. Der, der uns den Weg zeigt.“
„Viele von euch haben ihn schon gesehen. Aber für die Neuen: Heute dürft ihr zum ersten Mal den Glanz von Meister Elrano spüren.“
Die Seitentür öffnete sich. Lautlos. Dahinter: Licht. Weiss, diffus, blendend. Dann trat er ein – gross, aufrecht, ein Windhund oder irgendetwas windhundartiges. Zu elegant für diese muffige Halle. Er trug eine makellose Robe, bestickt mit goldenen Symbolen, die aussahen wie schlecht kopierte Triskele und astrologische Zeichen. Sein Fell war silbrig, fast schimmernd. Die Augen ruhig, aber eiskalt wach. Meister Elrano.
Der Biber verbeugte sich tief. Elrano schenkte ihm kaum Beachtung. Dann wanderte sein Blick langsam durch die Gruppe. Er begann bei den alten Gesichtern, liess den Blick prüfend über sie gleiten – dann blieb er an den Neuen hängen.
Er sah uns alle. Die frischen Körper, die noch nicht geformt waren. Die Blicke, die noch Fragen stellten. Seine Augen glitten über jeden Einzelnen, ohne Eile, ohne Hast – bis sie bei mir stehenblieben.
„Du bist neu.“
Ich nickte. Kurz. Unsicher.
„Deine Haltung ist gut. Du willst dazugehören. Das ist schön.“
„Aber dein Blick ist unstet. Deine Ohren verraten Gedanken, die nicht hier sind.“
Sein Lächeln blieb. Kein Vorwurf. Nur ein sanfter Schnitt durch die Haut.
„Wer sich entziehen will, leidet doppelt.“
Dann wandte er sich ab. Die Übungen begannen. Ich machte alles mit: springen, rollen, tragen. Der Körper funktionierte wie von selbst. Aber die Worte sassen fest. „Wer sich entziehen will…“
Unter der Dusche prasselte das Wasser eiskalt auf mich herab. Kein Trost, kein Abschluss. Nur ein schneidender Strahl, der mich gleichzeitig frösteln und wacher werden liess. Ich lehnte die Stirn gegen die Fliesen. Atmete. Zwang mich, nicht an gestern und vorhin zu denken. Und tat es trotzdem.
Und ich erinnerte mich an Crest. Zlatka. Elfi. Branko. Benny. Pandora. Ich dachte an sie alle. Ich machte mir Vorwürfe, obwohl ich nicht genau wusste, warum. Vielleicht dafür, dass ich hier war. Vielleicht dafür, dass ich nicht mehr wusste, ob ich überhaupt noch zurückwollte.
Ich erinnerte mich an die Stimme vom Abend davor. An das neue Etikett, das mir aufgeklebt wurde, als wäre ich ein Konservenprodukt mit fragwürdigem Inhalt.
„Wojtek. Du bist jetzt Ottokar.“
Ich wiederholte es in Gedanken, nicht aus Überzeugung, sondern um es von mir abzustreifen. Ottokar. Ein Name wie ein nasser Sack. Schwer, schimmlig, fehl am Platz.
Ich bin nicht Ottokar.
Ich sagte es mir selbst. Nicht trotzig. Nicht rebellisch. Nur leise. Als Gegengewicht zur Auflösung. Als ich mich abtrocknete, anzog und den Duschraum verliess, spürte ich, dass sich etwas in mir verändert hatte. Meine Gedanken wurden jedoch plötzlich unterbrochen, als ein alter, zerzauster Wischmopp auf mich zu raste und ich versuchte ihm auszuweichen.
Ein Hund namens Risiko
Ich lungerte in der Nähe des Vorhofs herum, so unauffällig wie ein Haufen Gammelfell eben sein konnte. Der Boden klebte von altem .. äh .. keine Ahnung was, irgendwo tropfte was mit rhythmischer Nervigkeit, und mein linkes Ohr hatte sich im Kostüm verdreht. Ich sah aus dem Augenwinkel zur Kreuzung. Crest hob kurz den Spiegel – sein Signal. Alles ruhig. Noch.
Dann quietschte eine Tür.
„He, du da! Was machst du hier draussen ganz allein?“
Ich drehte mich langsam um. Eine schlanke Gestalt trat aus der Vorhoftür – ein Marder in halb geöffneter Uniformjacke, Zigarette in der Pfote, mit einem Blick wie frisch gebrainwashed. Seine Stimme war freundlich – zu freundlich.
Ich gab ein klägliches Winseln von mir und setzte mich hin wie ein morscher Haufen Elend.
„Oha… du siehst übel aus, mein Freund. Aber vielleicht… vielleicht bist du ja hier genau richtig.“
Er trat näher, sog die Luft ein – und verzog leicht das Gesicht. „Holla. Du trägst viel Altes mit dir. Schmerz, Schmutz… und noch was Tieferes.“
Ich zuckte nur leicht mit dem Schwanz und versuchte, nicht zu atmen. Aus Reflex.
„Komm. Vielleicht hat dich das Licht zu uns geführt.“
Er stiess eine kleine Seitentür auf. „Wir haben Raum für alle, die noch nicht wissen, was ihnen fehlt.“
Ich tappte hinter ihm her, leicht humpelnd, wie eingeübt. Im Inneren erwartete mich ein grauer Gang mit Licht, das flackerte, als wär’s auf Methadon. Am Ende erwartete mich ein Tisch mit einem Dachs dahinter. Er hatte ein Klemmbrett in der Pfote und Desinteresse im Blick.
„Fundtier?“, fragte der Dachs ohne aufzuschauen.
„Jo“, sagte der Marder. „Lag draussen rum. Hat sich freiwillig hingesetzt. Ich glaub, der ist bereit.“
Der Dachs schnaubte, trat vor. „Ich schau trotzdem kurz drüber.“
Ich blieb stehen. Die Kontrolle war oberflächlich – bis seine Pfote an meine Brust kam. Die Glitzerplakette. Mein Herz setzte aus.
„Moment mal…“, murmelte er und fingerte am Filz.
„Lass stecken“, warf der Marder schnell ein. „Der ist ein verlorenes Licht, kein Spion. Wenn der was zu verbergen hätte, wär er nicht freiwillig rein. Und ehrlich – der kann sich kaum selbst putzen.“
Der Dachs knurrte, drückte mir ein graues Hemd mit rotem Kreis in die Pfoten. „Ich zeig dir dein Quartier 3c, Dann in die Dusche mit dir. Ich hol den Biber, der soll dir die Dusche zeigen und dann entscheiden, ob man dich behält oder verbrennt.“
„Möge das Licht dich führen“, sagte der Marder und nickte mir zu. Dann verschwand er.
Ich wurde durch einen Seitengang geschoben, das Hemd fest an mich gepresst, sollte ja so wirken, als seie der Kreis meine Letzte Hoffnung. Meine Nerven lagen blank. Der Raum, in den wir kamen, war kahl und funktional – mehr wusste ich nicht, denn ich würde nicht lange bleiben.
Die Tür fiel ins Schloss. Ich wartete ein paar Sekunden, spitzte die Ohren – nichts. Kein Schlüssel, kein Schloss. Ich schlich zur Tür und drückte sachte dagegen. Offen. Ich atmete aus und schob mich in den Gang hinaus.
Gerade als ich um die Ecke bog, hörte ich Pfoten. Schwere Pfoten. Ich drückte mich in eine dunkle Nische hinter einem Reinigungswagen. Dann tauchte er auf.
Der Biber. Der Idiot war also immer noch da, man bekommt halt nicht jeden Abschaum umgenietet.
Er kam den Gang entlang, blätterte in einem Notizblock – und verzog abrupt das Gesicht.
„Was zum…? Was stinkt denn hier wie der Intimbereich einer Schlachthofratte nach’m Heavy-Metal-Festival?“
Ich erstarrte. Er war keine zwei Meter entfernt. Seine Nüstern zuckten, sein Blick huschte über den Putzwagen und den Gang. Ich wagte nicht zu blinzeln.
Er blieb stehen, rümpfte noch einmal die Nase – diesmal stärker – und murmelte: „…als hätte jemand Hundefutter in ’nem Gully fermentiert und dann mit Pilzbutter eingerieben?“
Dann schüttelte er angewidert den Kopf. „Ja, der muss wohl echt duschen, wenn der schon aus seinem Quartier so schlimm bis hierher stinkt.“
Er trottete weiter. Ich wartete, bis seine Schritte verklangen, dann kroch ich raus – schweissnass, angespannt, zum Glück noch lebendig.
Ich bog ab, duckte mich in die Schatten, wich Licht und Stimmen aus. Und dann – Schritte. Eine vertraute Silhouette. Wojtek.
Barfuss, im Sektenhemd, mit einem Blick, als hätte man ihn durch drei Tage Ohnmacht geprügelt. Unsere Blicke trafen sich.
Ich hob kurz das Kinn. „Wojtek.“
Er blinzelte. „Was…?“
„Ich bin’s. Kupplung.“
Für einen Moment war da nichts. Dann zuckte er zusammen, packte mich an der Schulter und zog mich in eine Nische zwischen zwei Schränken.
„Bist du komplett irre?“, zischte er. „Was machst du hier?“
Ich grinste, obwohl mir einer der Teppichflusen zwischen die Lefzen rutschte. „Dich suchen. Und die anderen.“
Wojtek schüttelte den Kopf. „Du bist ein verdammter Selbstmord auf vier Pfoten.“
„Passt ja zum Kostüm.“
Wojtek fuhr sich fahrig durchs Fell. „Ich… ich weiss nicht, ob ich dir trauen kann. Oder mir. Noch vor ein paar Stunden war ich mir sicher, dass ich hierher gehöre. Und jetzt…“
„Jetzt merkst du, dass der ganze Laden stinkt“, sagte ich leise. „Und nicht nur nach Pilzbutter und Gully-Hundefutter.“
Er verzog das Gesicht. „Was?“
„Vergleich. Sehr bildlich. Sehr eklig. Passt zur Lage.“
„Okay… also. Was weisst du?“
„Ich weiss, dass ihr sechs fehlt. Branko, Daggi, Milena, Benny, Pandora – und du.“
Ich trat einen halben Schritt näher. „Wie geht’s euch?“
Wojteks Blick wanderte zur Wand, dann wieder zu mir. „Scheisse. Uns geht’s scheisse. Milena tut auf loyal, aber ich seh’s in ihren Augen. Benny ist still – viel zu still. Branko redet kaum. Daggi… die lacht alles weg. Aber es ist nicht echt.“
Er schluckte. „Und Pandora…“
Ich spannte meine Muskeln an. „Was ist mit ihr?“
„Sie ist weg. Also nicht körperlich. Aber sie ist nicht mehr wirklich da. Sagt fast nichts. Reagiert kaum. Ich glaub, sie hat innerlich aufgegeben.“
Mir wurde kalt unterm Kostüm. „Verdammt. Dann wird’s Zeit, sie da rauszuholen.“
Wojtek sah mich wieder an. „Und ihr seid wirklich gekommen? Wegen uns?“
„Crest. Glenda. Elfi. Zlatka. Und ich.“
Ein schwaches Lächeln zuckte über sein Gesicht. „Ihr habt uns nicht im Stich gelassen… obwohl wir so beschissen abgezogen sind.“
„Tja“, murmelte ich. „Crest hätte mich umgelegt, wenn ich’s nicht versucht hätte. Und Glenda hat ihr letztes Wurstwasser geopfert. Das muss was heissen.“
„Und du? Seit wann bist du einer von uns?“
„Seit kurzem. Ist ’ne längere Geschichte. Noch länger als die mit dem fermentierten Hundefutter im Gully.“
Er grinste schief. „Dann passt du wohl rein.“
„Ziemlich sicher.“
„Was ist der Plan?“
„Du redest mit den anderen. Heimlich. Mach ihnen klar: Wir warten auf ein Zeichen. Sobald es losgeht, bringst du sie zum Balkon im zweiten Stock. Elfi wartet dort mit ’nem ganzen Schwarm Tauben.“
„Was für ein Zeichen?“
„Feueralarm. Wenn hier die Sirenen losgehen und alle durcheinander rennen – dann ist unser Moment.“
„Und du?“
„Ich finde raus, wer hier wirklich das Sagen hat – und dann schalt ich ihn aus. Und seinen biberigen Kumpel gleich mit. Dann gibts keinen mehr, der in der befehlskette dazwischen funken könnte.“
„Du weisst nicht, wer das ist?“
„Noch nicht. Sag’s mir.“
„Meister Elrano. Der mit dem Licht. Der Erlöser. Der grosse Lächler. Laut Gerüchten Adoptivbruder vom Biber.“
Ich seufzte. „Wär ja schön gewesen, wenn sich wenigstens das geändert hätte. Aber gut – in dem Fall: besser für uns.“
Wojtek nickte langsam. „Ich mach das. Ich bring sie zum Balkon. Ich… danke. Dass ihr uns nicht aufgegeben habt.“
Ich legte ihm die Pfote auf die Schulter. „Wir lassen niemanden zurück. Nicht dich. Nicht Pandora. Nicht mal Daggi – auch wenn ich mich frage, warum sie’s verdient.“
Kapitel 7 – Vorbereitung und Verrat
Wojtek – Zeichen im Schatten
Ich schlich durch die Flure, mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. Was zum Teufel sollte ich jetzt tun? Das Sektenzeug und Kupplungs Besuch hatten mich innerlich so weit entkernt, dass ich nicht mal wusste, ob ich hier noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich musste die anderen finden. Schnell.
Ich traf sie in den Gebetsräumen, die nicht weit waren. Was ich da vorfand, war kaum zu ertragen. Milena, Benny, Daggi, Branko und Pandora sassen auf dem Boden, die Hände zu einer verdrehten Gebärde gefaltet. Sie beteten, flüsterten diese grässlichen Sektenformeln – „Sünde“, „Reinheit“, „Falscher Funke“ –, als würden sie sich mit ihren Köpfen immer tiefer in der Scheisse vergraben. Und Pandora… Pandora war nur noch ein Schatten ihrer selbst, ein Haufen lebendiges Geckofleisch, das nichts mehr mit der Person zu tun hatte, die sie mal war.
Ich trat vorsichtig näher. Mein Gesicht war hart, als ich die anderen ansprach – keiner von ihnen reagierte. Natürlich nicht.
„Hört mir zu“, flüsterte ich, „wir gehen. Wir gehen alle. sehr bald.“
Benny hob den Kopf und sah mich an, als würde er gerade aus dem Grab sprechen. „Was meinst du damit? Wir bleiben hier. Es gibt… es gibt da noch was. Der Meister hat uns erwählt.“
Ich ballte die Fäuste. „Du bist ein Arsch. Ihr seid alle Arschlöcher. Glaubt nicht, der Meister wird euch retten.“
Daggi grinste schief, wie ein verdrehter Clown. „Ach, wir haben doch alle hier ein bisschen an der Frischluft verloren, nicht? Die Luft hier riecht wie der letzte Akt der Menschlichkeit, äh … tierichkeit oder so.“
Branko knurrte und drehte sich weg. „Was ist denn jetzt dein Problem, Wojtek? Willst du uns retten, oder was?“
Ich nickte kurz. „Ja, verdammt! Ich will euch retten, ihr Idioten! Aber wenn ihr euch nicht zusammenreisst, werde ich euch mit der Fresse zuerst aus dem Loch hier schleifen.“
Ich drehte mich zu Milena. „Du hast noch ein bisschen Verstand, oder?“
Milena nickte kurz, ohne ein Wort zu sagen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Das war das Einzige, was ich an diesem Moment als ehrlich bezeichnen konnte.
„Pandora“, flüsterte ich dann, als ich mich zu der stummen Gestalt hinabbeugte. „Pandora, komm. Komm schon. Du bist nicht tot. Hörst du? Du bist nicht tot!“
Doch sie starrte nur ins Leere, ihre Lippen murmelten immer wieder dieselben Wortfetzen: „Sünde… Reinheit… falscher Funke…“
Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Verdammt, sie ist wirklich nicht mehr zu retten, oder?“
Ich seufzte und sah dann die anderen an. „Okay, Leute. Es bleibt keiner hier, sonst seid ihr verloren. Egal, ob es euch gefällt oder nicht. Wenn der Alarm kommt, nehmt eure verdammten Hinterpfoten in die Forderpfoten, Flügel oder was auch immer ihr habt, und rennt. Wir laufen sofort zum Balkon im 2. Stock, wo wir abgeholt werden. Und glaubt mir, es bleibt keiner hier. Ihr bleibt nicht zurück, verdammt noch mal! Verstanden? Wenn der Alarm kommt, reissen wir uns alle zusammen und rennen, als wäre der Kammerjäger hinter uns her! Sofort, ohne Zögern!“
„Verstanden“, sagte Benny, „dann rennen wir.“
„Wir sind dabei“, sagte Milena ruhig, ihr Blick fest.
„Mach keine Faxen“, grinste Daggi, „aber wenn’s losgeht, dann aber richtig.“
„Okay, dann heisst es jetzt warten.“, sagte ich und sah die anderen herausfordernd an. „Kratzt in der Zeit den letzten Rest eures verdammten Geistes aus diesem Sektendreck zusammen und wenn das Signal ertönt, rennt, als wäre der Kammerjäger hinter euch her!“
Es war kein Zögern mehr. Sie nickten, und ohne ein weiteres Wort begann das warten, bereit, loszulegen. Niemand blieb zurück, das war klar. Wir würden gehen – und wir würden schnell sein.
Kupplung – Chaos mit Konsequenz
Ich schlich durch die Flure wie ein schlecht programmierter Roomba – halb gebückt, halb verwirrt, aber mit klarer Mission. Mein Hundekostüm juckte überall. Der Schwanz war ein Ärgernis, das linke Ohr fiel mir ständig über die Augen, und direkt im Übergang zwischen Nacken und Kapuze kratzte etwas. Erst dachte ich, das sei ein Etikett – war’s nicht. Es war… eine Fliegenleiche. Getrocknet, knisternd, irgendwo zwischen Stoffschicht und Innenfutter. Ich spürte das winzige Schaben bei jeder Bewegung. Ich kam nicht ran. Nicht ohne Aufsehen. Nicht ohne Würgereflex.
Als ich an der Küche vorbeikam, stand der Kühlschrank einen Spalt offen – vermutlich hatte einer der erleuchteten Esoterikfrösche vergessen, ihn zu schliessen, als er sich mit Wasser aus einem Kristallkrug reinigte. Drinnen: ein unverpackter Butterblock, weich, glänzend, leicht angeschmolzen. Ich schnappte ihn mir. Man weiss nie, wann Butter Leben retten kann.
Dann schlich ich weiter – durch kalte, kahle Gänge, vorbei an Türen, die nach verschlossenen Versprechen aussahen. Keine Deko, kein Teppich. Nur klinische Leere und Flackerlicht. Und dann: Stimmen. Nicht der übliche Singsang. Gesprächsfetzen. Es klang dringlich eindeutig ein Befehlston.
Ich pirschte näher, schlich mich an eine angelehnte Tür heran und linste durch den Spalt. Kein Raum wie jeder andere. Der Raum. Und sie waren da.
Meister Elrano thronte mit glänzendem, silbrigem Fell und goldverzierter Robe auf einem Podest, das so tat, als wäre es heilig – dabei war es wahrscheinlich ein umgedrehter Gemüsekistenstapel. Daneben hockte der Biber – schief, fahrig, die Pfoten verkrampft. Er schwitzte aus jeder Pore Nervosität, während er zitternd erklärte: „…und wenn die sechs neuen Lichter im Zentrum stehen, dann wird ihre Reinheit… also nach aussen hin… also es sieht so aus, als würden sie führen…“
Elrano hob langsam die Pfote. „Nach aussen“, sagte er, „werden sie das Gesicht sein. Doch innen – innen bin ich der Strom. Ich bin der Funke. Der Ursprung. Sie werden glänzen. Aber ich führe.“
So viel Selbstverliebtheit hätte fast meine Tarnung zum platzen gebracht vor Falschheit. Ich holte tief Luft, zog den Reissverschluss meines Kostüms noch ein paar Zentimeter weiter zu, und dann:
Ich öffnete lautstark die Tür – und stürmte hinein. Breitbeinig, hechelnd, mit hängender Zunge. „Entschuldigung“, sagte ich. „Aber ich glaube, euer Teewasser brennt.“
Der Biber zuckte,zusammen und sprang auf. Elrano runzelte die Stirn. „Du bist nicht vorgesehen.“
„Ich bin vieles nicht“, knurrte ich. „Aber definitiv euer Ende.“
Ich sprang los. Auf halber Strecke zog ich den Butterblock aus meinem Ärmel, warf ihn auf den Boden und trat mit voller Wucht rein, das die weiche Masse nur so durch die Gegend schmodderte. Butterboden aktiviert.
Der Biber hechtete auf mich zu, rutschte aus wie ein Seehund auf Schmierseife und krachte mit einem schrillen Quietschen in ein Regal voller Klangschalen. Ein Schrein fiel um. Der Aufprall liess eine Klangschale durch den Raum sausen – sie verfehlte Elrano nur knapp, traf dafür jedoch einen Wandspiegel. Der zerbarst. Und dann kippte das zweite Regal.
Ich hatte es mit dem Schwanz erwischt. Und darauf thronte sie: eine Statue aus gepressten Algenwürfeln – angeblich ein Überbleibsel der „ersten Erleuchtungsebene“. Sie fiel langsam, fast ehrfürchtig, und traf Elrano frontal. Es gab einen feuchten Platsch, gefolgt von einem gurgelnden Röcheln – und dann nur noch schweigende, matschige Finalität.
Der Biber lag unter einer umgestürzten Klangaltarwand, die Zähne gebleckt, die Pfoten verdreht – diesmal ohne Glitzer.
Zwei erledigt. Und ich? Noch ganz der Hund, der ich nicht war.
Kein Feuermelder in Sicht. Aber ich erinnerte mich an einen – auf dem Hinweg, eine Ecke zurück. Ich rannte los, bog scharf ab, stolperte beinahe über einen Stapel sektentreuer Yogamatten, und da war er: Der Feuermelder. Leuchtend rot. Ein Versprechen, an all meine neuen Freunde und an Sicherheit.
Ich holte aus. Beim ersten Schlag rutschte ich mit dem unnützesten Teil meines Kostüms, dem Schwanz ab. Beim zweiten: Klirr! Sirene. Licht. Chaos.
„RÖÖÖHR! RÖÖÖHR! EVAKUIERUNG!“ Überall blinkte es. Schritte. Stimmen. Panik. Ich setzte mich grinsend aber schnell in Bewegung.
Und dann – natürlich. Er. Der Marderwärter. Der mich reingelassen hatte. Seine Augen weiteten sich, als er mich erkannte. „Tut mir leid, Freund“, knurrte ich. „Ich weiss, du hast mich reingelassen – aber hier ist dein Exit.“ Ich rammte ihm im Sprint die Tür gegen die Schnauze. Er ging zu Boden wie ein nasser Sack voller Klangholzketten.
Ich raste weiter.
Jetzt musste nur noch Wojtek liefern.
Kapitel 8 – Rückverwandlung deluxe
Zlatka & Glenda – Impro trifft Instinkt
Ich sass unter der Brücke und hörte… nichts. Der Funk blieb stumm. Keine Übertragung, kein Rauschen, nicht mal ein verirrtes Zirpen im Hintergrund. Einfach – Stille. Und ich? Nutzlos. Nur ein Reptil auf Halbmast. Kein Plan, kein Beitrag, kein Funken, nicht mal ein verirrter Geistesblitz auf Reserve.
„Nur ich bin’s, die nix beiträgt“, murmelte ich. „Nicht mal ’n Funkspruch, verdammt.“
Ich krallte mich an der Kante des Tischs fest, wo das Funkgerät stand – alt, kantig, zuverlässig wie ein rostiger Kühlschrank, aber gerade einfach nur tot. Kein Piepsen, kein Flackern, kein gar nix. Ich kickte ein paar Dosen zur Seite. Eine davon klang, als wär noch was drin, aber ich war zu schlecht gelaunt, um Hoffnung auf Dosenglück zu verschwenden.
Dann zuckte etwas in meinem Hirn. Kein Gedanke – eher ein Nachbeben eines Geistesblitzes von jemand anderem. Ein Müllbild. Eine Erinnerung. Der Müllberg bei der Müllkatze. Ich hatte dort doch… Moment. Ja. Da war doch… genau!
- Ein Paar sockenverwesende Höllenfusswärmer,
- ein aufgedunsener Luftballon, schmierig, leicht glitschig,
- und dieser metallene Ring, den Elfi mal „magisch“ genannt hatte, als sie besoffen draufgefallen war.
Ich schielte zur Seite – der Krempel lag noch da. Niemand hatte sich bisher getraut, das Zeug auch nur anzufassen.
Dann schlurfte Glenda heran. Thermoskanne im Maul, Stirn zerknittert. Ihre emaillierte Suppentasse mit „Gulasch für alle“ stellte sie mit einem satten Klonk auf dem Tisch ab, dann goss sie wortlos ein – erst bei mir, dann bei sich selbst.
Ich streckte meine Krallen nach meinem Becher aus – pink, aus Plastik, mit abgeriebenem Einhorn. Der Deckel war lose, aber er hielt. So wie ich. Gerade noch so.
Der Kaffee war – selbst nach Brückenmassstäben – ein Verbrechen. Dieses Mal hatte sie zusätzlich zur Altölbasis auch noch ein paar Tropfen alte Bratensauce, einen Schuss ranzige Margarine und, wie sie später erklärte, „den Rest von schlecht gewordener Buttermilch mit Klümpchen, die vorher noch lebten“ reingekippt. Nur für das gewisse Etwas.
Ich nahm einen vorsichtigen Schluck. Mein Hirn setzte kurz aus, meine Geschmacksknospen begannen zu schreien, meine Magensäure warf das Handtuch.
„Kupplung ist drin“, sagte Glenda knapp. „Holt sie raus. Chaos steht kurz bevor.“
Ich schnappte mir den Becher, noch zitternd vom ersten Schluck.
„Perfekt“, krächzte ich. „Genau den Kaffee brauch ich. Der brennt sogar auf Blech.“ Als ich Glenda meine Idee erklärte, lachte sie herzlich und war sofort mit von der Partie.
Wir wussten nicht, was wir da zusammenbrauten – aber es fühlte sich richtig an. Oder wenigstens fatal genug, um als Plan durchzugehen.
Ich fischte die vier Gossen-Relikte aus der Ecke: Die beiden Fusswärmer, den Ballon und den Ring. Glenda suchte währenddessen den kleinen schwarzen Kanister, in dem sie normalerweise Schmierfett aufbewahrte – der war heute leer. Zum Glück.
Wir füllten ihn mit einer Mischung aus Altölbratensaucenmargarinebuttermilchkaffee aus unseren Bechern und dem Inhalt einer vergessenen Fleischdose aus dem „Kühlschrank“ unter dem Tisch. Was auch immer das war – es stank wie eine Tote Leiche nach drei Wochen Sommerhitze. Glenda goss feierlich den Rest aus ihrer Thermoskanne hinterher. „Für den Extraknall“, sagte sie. „Oder damit’s wenigstens schäumt.“
Ich füllte das Ganze in den aufgeweichten Luftballon. Der hielt erstaunlich dicht – wahrscheinlich aus Trotz. Der Ring kam oben drauf, wir befestigten ihn mit einem Gummiband, damit er sich bei der kleinsten Erschütterung löste. Die Fusswärmer dienten als Zündhilfe. Oder einfach als ironisches Accessoire.
Dann packten wir das ganze Gebilde in eine zerfledderte Tüte, die mal zu einem Tiernahrungspaket gehört hatte. Glenda klopfte liebevoll drauf.
„Wenn das Ding nicht explodiert, sorgt’s vielleicht für nen massiven moralischen Kollaps“, meinte sie. „Oder die werden alle einfach nur ohnmächtig vor Ekel. Auch okay.“
Ich nickte. „Oder es verwandelt sie in dampfendes Kompostgut.“
Glenda grinste. „Wär immer noch besser als Sektenmitglieder.“
Ich sah auf die Tüte. Dann auf meinen Becher. Dann in den Himmel. Nur kurz.
„Wenn Kupplung wirklich drin ist, wird das sein Notausgang – egal, was passiert, wenn das ding explodiert.“
Kapitel 9 – Flucht und Heimkehr
Milena – Aufbruch im Alarmlicht
Der Feuermelder heulte los – wie ein überhitzter Server voller Panikskripte. Rotes Licht zuckte über die Wände, und irgendwo ganz hinten im System war ein Speicher übergelaufen, wild gewordene Prozesse schleuderten Datenmüll durch die Synapsen der Sekte.
Ich zuckte zusammen – nicht vor Schreck, sondern weil ich wusste, was jetzt kommen musste. „Jetzt!“, brüllte Wojtek, und plötzlich war aus Warten Flucht geworden.
Der Gebetsraum explodierte fast vor Bewegung – nicht durch Sprengkraft, sondern durch panische Tierkörper, die in alle Richtungen stoben. Gebete verwandelten sich in Flüche, fromme Blicke in panisches Augenrollen. Sektenratten, verwirrte Lemminge, sogar ein halber Waschbär mit Goldumhang rannte schreiend los. Wir mittendrin.
Ich sah Pandora einfach einknicken. Sie war Nicht ohnmächtig – nur zusammengebrochen unter dem Gewicht der emotionalen Last von allem. Branko und Benny packten sie gleichzeitig. „Auf meinen Rücken, ich trage sie!“, keuchte Wojtek. „Schnell!“
Wir hievten sie auf seinen breiten Rücken. Benny und Branko lösten ihre Gürtel und schnürten sie fest – nicht zu fest, um ihre Atmung nicht zu behindern, aber sicher genug, dass sie beim Rennen nicht herunterrutschen würde.
„Fertig!“, rief Branko. Und dann rannten wir.
Die Gänge waren inzwischen voller fliehender Kreaturen. Es roch nach Angst, alten Räucherstäbchen und kollektivem Realitätsverlust. Sirenen kreischten, Türen knallten, irgendwo fiel ein Regal um, jemand schrie nach Erlösung, jemand anderes nach seiner Zahnbürste. Ein weiterer warf ein Tablett mit Sektentassen verzweifelt gegen eine Wand. Alles blinkte. Alles war Panik.
Im Treppenhaus flog plötzlich eine Tür auf – Kupplung stürmte herein, die Kapuze seines Hundekostüms halb vom Kopf gerutscht, die Zunge hing ihm aus dem Maul und die Augen weit aufgerissen. An seiner Schulter klebte etwas, das wie der letzte Rest eines Obermotzes aussah.
„Treppensprint!“, keuchte er. „Oben raus, zweiter Stock, Balkon!“
Plötzlich ging eine weitere Tür auf und schlug mit Schwung gegen die Wand. Eine Truppe Wachhamster stürmte uns hinterher – klein, aber schnell, mit Knüppeln aus Edelstahlrohren und fanatischem Funkeln in den Knopfaugen. „Im Namen der Reinheit – stehen bleiben!“, fiepste einer, während er zwischen unseren Beinen hindurchschoss. Ein anderer holte bereits aus, aber Wojtek trat ihn mit dem Absatz die Treppe runter wie ein zu aggressives Staubflusensystem. Wir rannten weiter. Uns blieb kaum Zeit, da die Mistkerle die Verfolgung nicht so schnell aufgeben wollten.
Keine Diskussion. Nur rennen. Wir nahmen immer zwei Stufen auf einmal. Pandora murmelte irgendwas über Reinigung, derweil fiel ihr Kopf immer wieder gegen Wojteks Schulter. Keine Zeit für Würde. Nur Flucht.
Als wir oben ankamen, war die Tür zum Balkon – geschlossen. Kupplung nahm Anlauf und rannte mit voller Wucht gegen die Scheibe. Klirr! Glassplitter spritzten in alle Richtungen, ein klaffendes Loch entstand. Der Weg war frei.
Elfi und ein riesiger Schwarm Tauben standen oder flogen draussen auf Bereitschaft. Die Flügel gespreizt. Ruhig wie ein Fels in der Flut.
„Erste und letzte Fuhre!“, rief sie. „Auf Position!“
Daggi rannte los, sprang und wurde im Flug von zwei kräftigen Tauben aufgefangen. Sie kreischte: „Wenn ich runterfall, dann war das Absicht, ich weiss es!“
Branko sprang. Zwei Tauben griffen zu und hoben ihn wie einen stinkenden Mehlsack in die Lüfte.
Kupplung folgte. Noch fluchend. Noch lebendig.
Wojtek sprang ebenfalls über die Balkonbrüstung. Pandora zappelte schwach auf seinem Rücken, aber die Gürtelseilsicherungen hielten. Zwei Tauben stemmten sich unter seine Flanken. Dann war auch er in der Luft.
Ich spannte meine Flügel auf und sprang in die Dämmerung. Kein Plan, nur noch Instinkt. Der Schwarm formierte sich über dem Hof. Unter uns kreischte eine bunte Truppe verwirrter Sektenviecher, warfen Stühle, einer wedelte mit einem zerfetzten Flyer.
Da – die Hamster! Sie hatten sich durch das Loch in der Balkontür gezwängt. Einer packte Bennys Fuss, gerade als er abspringen wollte. Klein, verbissen, mit der Entschlossenheit eines religiösen Klammeraffens.
„Im Namen des inneren Kerns!“, quietschte er.
Benny trat ihm reflexartig mit dem anderen Fuss ins Gesicht. Der Hamster löste sich und segelte kreischend in die Gasse vor dem Sektenhaus. Keine Flammen, kein Finale – nur tiefer Fall.
Zwei Tauben schnappten Benny im letzten Moment und hoben ihn hoch.
Abflug.
Ich sah zu Wojtek rüber. Pandora hing festgezurrt wie ein Rucksack voller Traumata auf seinem Rücken. Er nickte. Ich nickte zurück.
Wir flogen.
Crest – Blick von der Kreuzung
Ich stand auf der Kreuzung vor dem Sektenhaus, halb im Schatten, halb im Altglas. Der Alarm jaulte immer noch, das Licht zuckte aus den oberen Fenstern wie etwas, dass man mit einer Warnung für Epileptiker versehen sollte. Ich wartete. Und beobachtete. Mehr konnte ich nicht tun. Noch nicht.
Dann sah ich auf dem Balkon Bewegung.
Daggi kam zuerst – halb Sprung, halb Wutanfall. Zwei Tauben griffen zu, gerade rechtzeitig. Ihre Stimme war noch lauter als das Geflatter.
Branko folgte – etwas schwerfälliger, aber mit genug Schwung. Die Vögel packten ihn wie ein zu volles Paket aus der Retourenabteilung.
Kupplung sprang fast direkt hinterher. Irgendwie verdreht, halb fluchend, aber definitiv funktionstüchtig.
Wojtek war der Nächste – Pandora auf seinem Rücken festgezurrt wie eine unfreiwillige Campingausrüstung. Zwei kräftige Tauben unter ihm, sie stemmten sich mit den beiden in die Luft. Pandora regte sich kaum. Aber sie war da.
Dann Milena – kurzer Anlauf, sauberer Flug, kein Kommentar. Wie immer.
Durch das Loch in der Tür stürmten plötzlich wildgewordene wachhamster. Benny stellte sich hastig zum Absprung bereit – und da packte ihn einer der kleinen durchgeknallten Hamster. Krallte sich an seinen Fuss, als würde er damit die Sektenwelt retten.
„Im Namen des inneren Kerns!“, quäkte der Arsch mit Ohren und Knopfaugen.
Benny trat ihm reflexartig mit dem anderen Fuss ins Gesicht. Der Kleine segelte rückwärts davon, beschrieb einen schönen Bogen, direkt runter in die Gasse. Man hörte nur noch dumpfes Poltern. Zielsicher gelandet, Wahrscheinlich auf dem Deckel von einer Mülltonne.
Zwei Tauben schnappten sich Benny gerade rechtzeitig. Hoch mit ihm. Fertig.
Ich atmete durch. Sie waren raus. Alle. Nicht schön, nicht heldenhaft. Aber am Leben.
Zlatka kam angerollt, im Einkaufswagen, wie ein wackliges Feuerwehrauto mit Wutladung. Glenda zog sie hinter sich her, fest im Griff, den Blick nach vorne gerichtet.
„Alle draussen?“
„Jo“, sagte ich. „Aber drin tobt’s noch.“
Zlatka kletterte hinaus, griff nach einer zerfledderten Plastiktüte. Darin: das Ding. Irgendwas Selbstgebasteltes aus Wahnsinn und Brückenkreativität.
Glenda zog ihre Suppentasse aus einer Halterung am Einkaufswagen, schüttete den letzten Rest Altölkaffee über das komische Ringding und meinte nur: „Zlatka hatte ’ne Idee. Keine Ahnung, ob’s klappt. Aber schlimmer wird’s eh nicht mehr.“
Zlatka zog den Ring. Und warf.
Ein Zischen. Ein Blubbern. Dann: Stille. Die Art von Stille, die kurz davor ist, irgendwas richtig Abstruses rauszuhusten.
Dann kam der Nebel – graugrün, dick, zähflüssig wie Schuldgefühle in Dosen. Er waberte durch die geöffnete Tür ins Sektenhaus, verschlang Treppen, Wände, Stimmen.
Erst hörte man Husten. Dann Schreie. Dann –
plopp-plopp-plopp-plirr-zirp.
Zirpen. Erst vereinzelt. Dann als Chor. Dann als Inferno.
Aus dem Nebel taumelten Gestalten – oder das, was von ihnen übrig war. Graubraune, zappelnde Heimchen. Überall. Sie fielen aus Ärmeln, aus Hosen, aus den Falten der Sektengewänder. Einige hatten noch kleine Namensschilder um den Hals. Einer trug noch eine Miniatur-Kapuze. Ich schwöre, eines hatte sogar noch eine winzige Brille auf den Fühlern.
Der Nebel kroch weiter – hinein in die Tiefen des Hauses. Und mit ihm: das Zirpen. Es wuchs an. Dehnte sich aus. Ein sektenweites Zirpengewitter. Heimchen. Hunderte. Tausende.
Zlatka starrte in die Schwaden und sagte mit einer Mischung aus Stolz und Ekel:
„Heilige Kacke. Es hat funktioniert.“
Glenda grinste. „Ewiges Gecko-Futter.“
Ich blinzelte. Dann nickte ich langsam. „Für Pandora. Und für uns.“
Der Taubenschwarm rauschte über unsere Köpfe hinweg. Wojtek vorne, Pandora noch festgeschnallt. Die anderen knapp dahinter. Keine Formation. Kein Glanz. Aber echt.
Wir drehten uns um und liefen oder rollten zur Brücke zurück. Alle. Und während hinter uns das Haus der Sekte im Heimchenchor versank, fiel die Tür durch einen Sturm aus Taubenflügeln krachend ins Schloss.
Kein Finale. Kein Applaus. Nur ein paar Sekunden Ruhe. Und das Wissen: Das hier war noch nicht vorbei – aber wenigstens sie waren wieder da, alle.
Kapitel 10 – Pandora und die Asphaltgeister
Pandora – Daheim im Dazwischen
Ich lag unter der Brücke. Nicht auf einer Decke, sondern auf der Wahrheit: Ich war zurück. Aber nicht wirklich da.
Die Stimmen der anderen zogen an mir vorbei, wie die Lichter alter Züge. Voller Leben, voller Lärm – doch ich sass nicht im gleichen Zug. Noch nicht.
Die Tauben und Elfi hatten uns abgesetzt, wortlos und präzise, einen nach dem anderen. Wojtek zuerst – und ich auf seinem Rücken, starr, wie ein vergessenes Gepäckstück, welches Elfi sofort losband und eben auf diese Decke der Wahrheit bettete. Dann die anderen. Milena, Benny, Daggi, Branko. Und Kupplung, der sich beim Aufprall auf die Steine fluchend von seinem Kostüm befreit hatte. Ich hätte lachen können. Tat ich aber nicht. Elfi blieb einen kurzen Moment bei mir, dann gesellte sie sich jedoch zu den anderen an den Biertisch.
Glenda, Crest und Zlatka kamen kurz danach. Ich sah ihre Silhouetten – vertraut wie die Geräusche unserer Nächte. Eine quietschende Tasse. Ein Schmatzen. Ein Atemzug im falschen Moment.
Ich sagte nichts. Konnte es nicht. Ich wusste nicht, ob meine Stimme mir noch gehörte oder ob sie im Kreis geblieben war, an den ich nächtelang geglaubt hatte. Ich war immer näher am Mittelpunkt. Immer leiser. Immer weniger ich.
Die anderen sprachen. Erst durcheinander, dann nacheinander. Einer nach dem anderen. Wie ein Knoten, der sich langsam löst – nicht ohne zu schneiden.
Milena flüsterte: „Wir sind kaputt. Aber wir sind da.“
Branko weinte still. Benny redete zu viel. Daggi sagte nichts, aber ihr Blick war ein Hieb in die Fresse. Kupplung erzählte irgendwann „die ganze Seppi-Scheisse“, wie er es nannte, und ergänzte, das Ganze sei länger gewesen „als der fermentierte Hundefuttergulli vom Festplattenfundus“. Elfi lachte trocken. Ich hörte es. Ich atmete.
Glenda brachte mir den Becher. Altölkaffee. Natürlich. Ich roch ihn, bevor ich ihn sah. Ihre Stimme war weich und schief, wie ein Lied von früher: „Für dich. So wie du ihn magst. Vielleicht sogar mit ein bisschen Hoffnung drin.“
Ich griff nicht danach. Noch nicht. Aber mein Blick blieb an meinem Becher hängen. Und ich hob den Kopf. Nur ein bisschen. Gerade genug, dass sie es sahen.
Sie rückten näher. Einer nach dem anderen. Keiner sagte etwas, aber jeder war da. Keine Schuld, kein Vorwurf. Nur ein Kreis, der anders war als der letzte. Dieser hier hatte keine Mitte. Nur uns.
Ich öffnete den Mund. Schliesslich. Die Worte kamen langsam, wie aus einer Tiefe, die mir nicht mehr ganz gehörte.
„Ich weiss nicht, wie ich zurückkomme“, sagte ich. „Oder wann. Oder ob ganz. Aber ich bin… Doch froh. Dass ich wieder hier bin. Bei euch.“
Zlatka schnaubte leise. „Das reicht.“
Crest legte mir seine Pfote an die Seite. Warm. Wirklich warm. Ich zitterte.
Und dann, als ob jemand ein stilles Signal gegeben hätte, lehnten sie sich alle vor. Einer nach dem anderen. Kein grosses Ding. Keine Erlösung. Nur… Nähe.
Ich liess den Kopf wieder sinken. Nicht vor Scham. Nicht mehr. Sondern aus Erschöpfung. Die gute Sorte.
Und vielleicht – nur vielleicht – ist selbst ein Heimchen im Herzen ein Rebell, wenn’s alt genug wird.