Kapitel 3: Der Angriff
Als Xelia erneut ihre Augen aufschlug, wusste sie sofort, wo sie sich befand. Elariel hatte sie in eine kleine Waldhütte gebracht, welche Platz für zwei Menschen bot. Außer ihr selbst wohnte jedoch noch niemand darin. Schnell streckte sie sich und stand auf, als ein Bild in ihren Gedanken aufblitzte. Sie sah Tiran und um ihn herum ein riesiges Gehege, welches wohl durch Magie versperrt wurde. „Wenn ich dich nicht so respektieren würde, würde ich alle töten, die mit mir in dieses verdammte Gehege kommen. Dort kommen ungezähmte Greifen hin, welche zwar schon Reiter für den ersten Test auserwählt haben, jedoch noch nicht gebunden oder gezähmt sind, damit sie ihre Auserwählten nicht auf der Stelle vernichten.“ Ein Mitgefühl durchzuckte Xelia, als sie ihren Freund so sah. „Es tut mir Leid“, sandte sie ihm. „Ich werde mit Elariel darüber sprechen.“ Kaum hatte sie diesen Gedanken gedacht, klopfte es an der Tür. Elariel stand vor ihr. „Komm bitte mit, Xelia“, sagte sie. „Wir haben etwas miteinander zu besprechen.“ Xelia nickte und folgte der Herrscherin bis auf einen kleinen Platz im Wald, wo mehrere Zielscheiben standen. „Dies ist der Trainingsplatz der Greifenreiter“, erklärte sie. „Normalerweise werden alle Jugendliche, welche Interesse haben, den Greifenreitern beizutreten, erst einmal in der Kunst des Bogenschießens geprüft, denn dies ist eine wichtige Kampfstrategie für die Reiter. Danach kontrolliert ein bereits gebundener Greif den geistigen Zustand der Reiteranwärter, aber da du schon von einem Greifen erwählt wurdest, fällt dies weg. Dennoch möchte ich testen, ob du Bogenschießen kannst.“ Xelia wurde flau im Magen, denn sie hatte noch nie einen Bogen in ihren Händen gehalten. Dennoch nahm sie Elariel den Bogen ab. Sie legte einen Pfeil auf die Sehne, so wie es ihr die Elfe gezeigt hatte, dann schoss sie. Der Pfeil verfehlte die Zielscheibe um mehrere Meter und landete in einem Baum. „Du musst dich auf dein Ziel fokussieren“, sagte Elariel. „Pass auf!“ Die Elfe trat einige Schritte zurück, und Xelia sah einen konzentrierten Gesichtsausdruck. Sie hielt ihre Augen nur auf die Zielscheibe gerichtet und schoss. Der Pfeil traf ohne Schwierigkeiten sein Ziel, und die Elfe lächelte. „Versuch es noch einmal.“ Xelia holte tief Luft, richtete ihren Blick auf das Ziel und spannte ihre Muskeln an. Dann schoss sie den nächsten Pfeil ab. Doch schon wieder verfehlte der Pfeil sein Ziel, wenn auch nur um wenige Zentimeter. Der dritte Versuch lief auch nicht besser, und Xelia überkam ein Anflug von Frustration. Elariel lächelte noch immer, doch gleichzeitig wurde ihr Blick ernst. „Ich verstehe nicht, wieso Tiran dich erwählt hat. Du hast keinerlei Fähigkeiten im Bogenschießen. Ich hoffe, du erlernst das noch. Erst einmal ist genug für heute.“ Xelia nickte, dann fasste sie neuen Mut. „Warum hast du Tiran ins Gehege gesperrt?“, fragte sie. „Er fühlt sich dort gar nicht wohl.“ Elariel sah Xelia mit einem seltsamen Ausdruck an, welchen das Mädchen nicht zu deuten vermochte. „Woher weißt du, dass Tiran in einem Gehege ist?“, fragte Elariel. „Weil ich mit ihm gesprochen habe“, antwortete Xelia. Sofort richteten sich Elariels smaragdgrüne Augen wieder auf sie, und sie konnte Erstaunen darin lesen. „Tiran hat mit dir… gesprochen?“ Sie sagte das Wort langsam, so als müsste sie sich der Bedeutung bewusst werden, und Xelia nickte. „Er spricht in Gedanken zu mir“, erklärte sie. „Das ist eigentlich nicht möglich“, erwiderte die Elfe. „Wir wissen, dass Greifen das theoretisch können, so wie sie auch Befehle empfangen über die geistige Verbindung mit dem Reiter. Doch auch das passiert erst, wenn sie aneinander gebunden sind. Selbst, wenn ein gebundener Greif vollkommen gezähmt ist und den Reiter bedingungslos akzeptiert und respektiert, würde er nie dessen Geist berühren, um Telepathie anzuwenden.“ Ihr Ausdruck wurde nachdenklich. „Du musst mehr Respekt genießen, als du von einem anderen Greifen jemals genießen könntest“, beendete sie ihren Gedanken. Xelia nickte und ging wieder zur Hütte zurück, setzte sich jedoch davor auf einen nahegelegenen Baumstamm, um das Treiben zu beobachten. „Ich habe dich auserwählt, obwohl ich weiß, dass du den Bogenkampf nicht beherrschst, und ja, ich respektiere dich mehr, als es jeder Greif tun könnte, auch, wenn wir noch nicht gebunden sind. Ich bin mir sicher, dass du mich auch respektieren wirst und wir gleichberechtigt miteinander kämpfen werden.“ Xelia nickte in Gedanken, als sie eine Bewegung wahrnahm. Ein noch junger Greif kam direkt auf sie zugeflogen, und sie erkannte ihn als Denjenigen, welcher aus dem Gehege fliegen wollte, um sie zu töten. Das war es jedoch nicht, was ihren Herzschlag beschleunigte, sondern die Schwärze, welche begonnen hatte, sich auf seinen Flügeln auszubreiten. Er kam auf Xelia zu, und sie spürte sofort, was er im Sinn hatte. „Halte durch“, flüsterte Tirans Gedankenstimme. „Ich versuche, hier herauszukommen.“ Xelia lief vor dem Greif davon, doch es nützte nichts. Er flog so schnell, dass sie ihn nicht abhängen konnte, und zu allem Überfluss fingen seine Flügel an, leicht zu glühen. Wahrscheinlich war er noch nicht gut genug, um ein größeres Feuer zu erzeugen. Mit einem Satz war er bei Xelia, und sie schrie auf, als der Flügel ihren Arm verbrannte. Plötzlich spürte sie etwas in ihrem Innersten. Eine kleine Stimme, die ihr sagte, dass sie das nicht mit sich machen lassen durfte und etwas, was sie nicht beschreiben konnte. Ein Kribbeln setzte ein, angefangen von ihrem Kopf setzte es sich bis zu den Füßen fort. Dann spürte sie, wie ihre Hände zu Flügel wurden und erhob sich in die Lüfte. Sofort bemerkte sie, dass sie ein Greif geworden war, wenn auch noch ein kleiner. Xelia schlug kräftig mit den Flügeln, und ein Luftstoß warf den dämonischen Greifen aus seiner Flugbahn. Mit dem Schnabel biss sie zu und versuchte, die Kreatur nach unten zu ziehen, was ihr jedoch nicht gelang. Sie hatte noch zu wenig Kontrolle über ihren inneren Greifen. Plötzlich kam ein anderer Greif geflogen, doch es war nicht Tiran. Dennoch konzentrierte sie sich auf dessen Geist und bat ihn um Hilfe. Der Greif befolgte ihren Befehl und griff das Ungetüm an, welches sich auch auf ihn stürzte. Es dauerte nicht lange, bis der Dämonengreif tot zu Boden fiel und der Helfer sich zu Xelia wandte. „Du hattest verdammtes Glück, dass ich eine Rechnung mit diesem Junggreifen offen hatte“, hörte sie dessen Gedankenstimme. „Mit einem ungezähmten Greifen telepathisch zu kommunizieren, hätte dein Leben kosten können.“ Mit diesen Worten flog er davon, und Elariel besah sich das Schlachtfeld. „Du bist scheinbar eine Greifenwandlerin“, stellte sie fest. Xelia nickte und befahl ihrem inneren Greifen, wieder menschlich zu werden. „Wir werden sehen, welche Fähigkeiten du in dieser Form nutzen kannst“, erklärte sie. „Nun geh in deine Hütte, ich werde mit den anderen Greifenreitern einen Kriegsrat abhalten.“ Schwer atmend erhob sich Xelia, betrat ihre Hütte und schlief mit der Gewissheit ein, dass sie bei den Greifenreitern ein neues Zuhause gefunden hatte.