Kapitel 5: Tamiros Fähigkeiten
Am nächsten Morgen trafen sich die Anwärter mit Elariel wieder auf der Greifenlichtung, direkt auf der Plattform. „Der erste Schritt, um die Bindung zu eurem Greifen zu stärken und ihn zu zähmen ist, ihn telepathisch zu rufen. Dabei müsst ihr darauf achten, dass der Ruf vom Greif als Befehl wahrgenommen wird und gleichzeitig nicht wie ein Zwang wirkt, der den Willen des Greifen brechen soll. Greifen lassen sich nur ungerne brechen, und wenn man sie so ruft, können sie äußerst ungehalten werden. Versucht also immer, Willenskraft in eure Rufe zu legen und gleichzeitig auszustrahlen, dass ihr eure Begleiter respektiert. Um euren Greifen rufen zu können, müsst ihr ihn euch vorstellen und dessen Namen in Gedanken rufen. Xelia, du beginnst.“ Xelia holte tief Luft, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Worte der Elfe. „Tiran!“, rief sie, und ihr Greif erschien sofort. „Das hast du gut gemacht“, ertönte seine Gedankenstimme. „Asmira“, fügte Elariel hinzu. Diese kniff ihre Augen zusammen, und als ihr Greif sich näherte, wurde sie von einem Luftstoß zu Boden geworfen und landete auf dem Rücken. Der Luftstoß war zum Glück nicht stark genug, um sie von der Plattform zu befördern. „Verdammt!“, entfuhr es Asmira, während sie sich aufrichtete. „Du hast zu viel Befehlston in deinen Ruf gepackt“, erklärte Elariel. „Zweiter Versuch.“ Wieder schloss Asmira die Augen, und diesmal kam ihr Greif, ohne sie zu Boden zu werfen. Auch Amilia und Mirko holten ihre Greifen ohne Zwischenfall. Dann sah Elariel Tamiro an. „Xelia, du wirst üben, dich auch ohne Kampf in einen Greifen zu verwandeln und Tamiro, du wirst üben, dich auf ihrem Rücken zu halten. Wichtig ist, die Prüfung des ersten Greifenflugs ist noch nicht vorbei. Wenn du abstürzt, darf dich Xelia nicht mehr retten.“ Tamiro nickte, doch er wurde kreidebleich. Auch Xelia spürte ein Unbehagen in sich aufsteigen, wollte der Anführerin jedoch nicht widersprechen. „Warum hast du mich gerettet?“, flüsterte Tamiro. Xelia lächelte. „Weil ich eine Kraft in dir spüre, die ich noch nicht einschätzen kann. Vielleicht kann sie nützlich sein.“ Tamiro schüttelte den Kopf. „Ich bin alles andere als klug, und ein Angsthase bin ich obendrein. Was für eine besondere Kraft kann ich schon haben?“ Xelia sagte nichts darauf, sondern konzentrierte sich auf sich selbst. Sie spürte ihren inneren Greifen, doch sie wusste nicht, wie sie ihre Kraft aktivieren sollte. Tiran landete gerade neben ihr und gab ihr Hinweise. „Versuche, mit deiner Kraft zu kommunizieren und stell dir vor, wie du zum Greif wirst.“ Xelia nickte und konzentrierte sich. Sie jubelte still, als das Kribbeln einsetzte und sie sich verwandelte. „Steig auf meinen Rücken“, sagte sie zu Tamiro, und dieser setzte sich unbeholfen. „Ich fliege neben euch her, für alle Fälle.“ Mit diesen Worten erhob sich Tiran in die Lüfte, und Xelia folgte ihm. Tamiro hielt sich krampfhaft fest, und Xelia konnte seine Angst wahrnehmen. „Sag ihm, dass er seine Angst unter Kontrolle bringen muss, sonst wird er nie auf einem Greifen sitzen können“, erklärte Tiran, und Xelia gab den Ratschlag weiter. „Das ist gar nicht leicht, wenn man sich so hoch oben befindet!“, rief Tamiro. Dennoch spürte Xelia, wie seine Angst langsam schwächer wurde und er seinen Blick jetzt stur geradeaus gerichtet hielt. Xelia flog einige Minuten, um Tamiro daran zu gewöhnen, bis Tiran sich abermals einmischte. „Ihr müsst die Manöver vollführen, die ich mit dir gemacht habe.“ Xelia wurde flau im Magen. Sie wusste nicht einmal, ob sie selbst diese Dinge bereits schaffen konnte, dennoch versuchte sie es. Sie drehte sich, und Tamiro wackelte bedrohlich, als er kopfüber hing. Er stürzte jedoch nicht ab. Dann jedoch wackelte Xelia mit dem gesamten Körper nach links und nach rechts. Zuerst schaffte es ihr Auserwählter, sich auf ihrem Rücken zu halten, doch dann begann er zu rutschen. Er versuchte, Halt zu finden, fand jedoch keinen. Xelia musste zusehen, wie er schreiend in Richtung Boden stürzte. Er war nicht mehr weit vom Boden und dem daraus resultierenden Tod entfernt, als sich etwas änderte. Xelia konnte es nicht beschreiben, aber es war so, als hätte sich seine besondere Kraft entfesselt. Dann konnte sie es auch deutlich sehen. Er begann sich zu verwandeln, doch dieses Wesen, was nun entstand, war kein Greif. Es war ein Drache, wenn auch nur ein winziger Babydrache, welcher jedoch komplett weiß war. Kurz bevor er auf dem Boden aufgeschlagen wäre, breitete er seine kleinen Flügelchen aus und schaffte es, seinen Sturz zu kontrollieren. Langsam landete er auf dem Boden und wurde sofort wieder menschlich. Xelia tat es ihm nach und sah entsetzt, wie bleich der Junge nun war. Er versuchte sich aufzurichten, fiel jedoch immer wieder zurück auf den Boden. Verletzungen konnte sie jedoch nicht an ihm feststellen, dafür bemerkte sie, dass seine Kraft kaum noch vorhanden war. „Du hast dich ermüdet“, erklärte sie. Tiran kam herbeigeflogen und nahm den Jungen zwischen seine Klauen. Dann erhob er sich langsam in die Lüfte und brachte ihn zu Elariel. Xelia folgte ihnen. „Ich bin ein Drache“, stammelte der Junge unaufhörlich. Auch Elariel hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. „Ich habe gehört, dass weiße Drachen die Fähigkeit haben, die dämonischen Greifen zu töten“, erklärte sie. „Für heute ist es genug, doch ich erwarte, dass du deine Drachenverwandlung gut trainierst.“ Tamiro wurde in seine Hütte gebracht, um sich auszuruhen. Für Xelia gingen die Übungen jedoch weiter. Diesmal ging die Verwandlung schon schneller. „Ich muss dir noch etwas Wichtiges mitteilen“, sagte Tiran. „Nun, da die Greifen sehen, dass du dich in solche verwandeln kannst, werden sie dich prüfen und sich mit dir messen. Im Moment, da du noch sehr jung bist, wird es noch nicht viele Herausforderer geben, aber wenn deine Kraft stärker wird und deine Form heranwächst, werden dich Greifen duellieren. Es ist ihre Art, zu bestimmen, welcher Greif ihren Respekt verdient. Jeder Greif, welcher zu schwach ist, wird im Duell sterben.“ Xelia spürte nun doch einen Anflug von Angst. „Ich möchte, dass du mich mit all deinen Möglichkeiten angreifst“, fuhr ihr Begleiter fort, und sie sah ihn ungläubig an. „Ich will dich nicht verletzen.“ Sofort nahm sie eine Erheiterung in seinen Gedanken auf. „Ich bin größer und stärker als du. Mach dir lieber Sorgen, dass ich dich verletze. Bist du bereit?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, flog Tiran einen Angriff. Xelia wich diesem aus und schleuderte ihn mit einem Luftstoß weg. „Das war gemein!“, rief sie. „In einem richtigen Kampf wirst du auch nicht vorbereitet sein, hier kannst du das üben.“ Nun stürzte sich Xelia auf ihren Freund und benutzte ihren Schnabel für den Angriff. „Ich hätte nicht gedacht, dass du Baby schon so zubeißen kannst“, feixte Tiran. „Er hat Baby zu mir gesagt!“, schoss es Xelia durch den Kopf. Dies durfte sie nicht auf sich sitzen lassen. Sofort erzeugte sie einen Luftstoß, welcher Tiran mehrere Meter weit wegschleuderte. „Wegschleudern kannst du schon ziemlich gut“, lobte ihr Greif. „Dies ist für die Verteidigung sehr wichtig, taugt aber nur minimal als Angriff, vor allem nicht gegen einen Greifen. Dein Schnabel und deine Klauen sind sicher wirkungsvoller.“ Xelia beherzigte seinen Rat, flog erneut auf ihn zu und versenkte ihre Klauen in dessen Rücken. „Aua!“, rief Tiran mit Überraschung in der Stimme. Sofort ließ Xelia von ihm ab und betrachtete die klaffende Wunde, welche sich gebildet hatte. „Es tut mir Leid“, sagte sie, während eine Lawine von Schuldgefühlen sie überrollte. „Das wollte ich nicht.“ Tiran beruhigte sie. „Ich werde mich gleich ausruhen, dann wird die Heilung einsetzen. Das solltest du auch tun, deine Kraft schwindet.“ Xelia nickte, dann landete sie und verwandelte sich zurück. Nach mehreren Versuchen schaffte sie es, auf die Füße zu kommen und ging zittrig in ihre Hütte. Amilia wartete schon im Wohnzimmer und blätterte in einem Buch. Als sie Xelia hörte, sah sie auf und lächelte. Ehrfürchtig sah sie Xelia mit weit aufgerissenen Augen an. „Ich bewundere dich“, sagte sie mit leiser Stimme. „Du bist für mich eine Göttin!“ Xelia lachte laut. „Ich bin eine Greifenwandlerin, aber eine Göttin bin ich bestimmt nicht.“ Amilia lächelte wieder. „Dennoch bist du eine sehr starke Greifenwandlerin. Ich respektiere dich dafür.“ Xelia grinste, dann gähnte sie laut. „Ich bin müde“, sagte sie und winkte Amilia zu. „Gute Nacht.“ „Gute Nacht!“, rief ihr Amilia zu, als Xelia ihre Zimmertür schloss. Kaum hatte sie sich ins Bett gelegt, war sie bereits eingeschlafen und träumte von Greifen und Drachen.