Kapitel 6: Ein neuer Greif erblickt das Licht der Welt
Am nächsten Morgen machten sich Xelia, Tiran und Tamiro wieder auf den Weg zur Greifenlichtung. Xelia hatte sich bereits in ihre Greifenform verwandelt, und auch Tamiro versuchte mit seinen kleinen Flügelchen mitzufliegen, was ihm nur mittelmäßig gelang. „Ich habe nicht genug Kraft in den Flügeln!“, sandte er, und Xelia konnte seine Verärgerung spüren. „Das wird schon noch!“, rief sie ihm zu, und er mühte sich tapfer weiter. An der Plattform angekommen erlebten sie jedoch eine Überraschung. Elariel war da, und Xelia, deren Sinne sich durch die Verwandlung ebenfalls verbessert hatten, sah in der Ferne ein kleines Greifennest, wobei es nur aus Greifensicht wirklich klein war. Im Nest saß eine Greifenmutter und hatte ihre Flügel über etwas gelegt, was Xelia nicht sofort erkennen konnte. Doch dann sah sie es, in der Mitte lag ein riesiges Greifenei. Man hörte ein Knacken, während die Schale des Eis immer weiter aufplatzte. „Bleibt in respektvollem Abstand!“, rief Elariel den Neuankömmlingen zu. „Greifenmütter können wütend werden, wenn sie glauben, dass jemand ihr Baby stehlen will.“ Erst jetzt erkannte Xelia, dass sich viele Greifenreiter um den Platz versammelt hatten. Sie standen in einem Kreis und hielten sich an den Händen. Xelia verwandelte sich zurück und stellte sich zu den anderen Anwärtern. Dann reichten sie einander die Hände, und Elariel begann mit einem seltsamen Singsang. Xelia konnte die Sprache nicht verstehen, doch sie spürte die elfische Magie, die davon ausging. „Das ist Tradition, wenn ein neuer Greif geboren wird“, erklärte die Elfe. „Es gibt der Mutter neue Kräfte.“ Niemand sagte ein Wort, während die Elfe weiter ihr Lied sang. Ein weiteres Knacken ertönte, und das Ei brach an einer weiteren Stelle auf. Nun konnte man einen Teil des Babys erblicken, und Xelia wusste mit einer seltsamen Gewissheit, dass es ein Greifenmädchen war. Mitgefühl stieg in ihr auf, als sie sah, wie das kleine Baby sich abmühte, um aus dem Ei zu kommen. „Sie braucht Hilfe“, flüsterte sie, doch Tiran schüttelte den Kopf. „Es ist die erste Prüfung, um zu sehen, ob der Nachwuchs stark genug ist, um zu überleben“, erklärte er, doch Xelia wollte nicht länger beobachten, wie sich das Mädchen quälte. Sie senkte den Blick, bis sie nach kurzer Zeit ein weiteres, lautes Knacken hörte. Der Kopf des Babys samt Schnabel waren nun sichtbar, und es schlug damit immer wieder auf das Ei ein, um die Schale vollständig zu zerstören. Wenige Sekunden später schaute schon ein Teil des Oberkörpers heraus, dann ihre kleinen Flügel. „Alle Menschen bitte den Rückzug antreten!“, rief Elariel. „Man weiß nie, wie ein Greifenbaby auf Menschen reagiert.“ Xelia verwandelte sich in eine Greifin, um das Baby weiter beobachten zu können. Als es geboren war, wurden Xelias Augen groß. Das Greifenmädchen war nicht viel kleiner als sie selbst, also musste Xelia wohl auch noch ein Baby oder kleines Greifenkind sein. Sofort breitete das Mädchen ihre Flügel aus und kam auf Xelia zugeflogen. „Hallo!“, rief ihre helle Gedankenstimme. „Ich bin Takira, und wie heißt du?“ „Xelia“, antwortete die Greifenwandlerin. „Du bist nicht viel größer als ich“, stellte Takira fest, und Xelia nickte. „Vielleicht können wir bald miteinander spielen!“, rief sie, bevor sie zu ihrer Mutter zurückflog. Diese nahm sie jedoch nicht ins Nest auf. „Du musst ab jetzt lernen, selbstständig zu sein“, sagte sie. „Ich habe das Ei ausgebrütet, jetzt musst du selbst für dich sorgen. Ich werde dir natürlich viel beibringen, was du wissen musst.“ Für einen Moment glaubte Xelia, Angst bei Takira wahrzunehmen, doch dann flog das Greifenmädchen los, um sich selbst ein kleines Nest zu bauen, in welchem sie leben konnte. „Wir üben jetzt weiter“, ertönte Tirans Gedankenstimme. Ein Anflug von Enttäuschung überkam Xelia, denn sie hätte Takira gerne weiter dabei beobachtet, wie sie ihre Umgebung erkundete und herausfand, wozu sie fähig war. Tiran hatte jedoch Recht. Auch Xelia musste noch viel lernen, und daher konzentrierte sie sich auf die Übungen. Ihr fiel auf, dass ihre Kräfte von Tag zu Tag stärker wurden, nur leider war sie noch nicht größer geworden. „Mach dir keine Gedanken. Die Größe wird kommen, je besser du deine Fähigkeiten beherrschst. Also los!“ Ohne Vorwarnung griff er sie an, und Xelia wich dem Schlag aus. Sie erzeugte einen Luftstoß, welcher Tiran mehrere Meter von ihr schleuderte, doch er kam genauso schnell wieder zurück. „Verdammt, ist dieser Greif schnell!“, fluchte sie innerlich, und Tiran lachte in ihren Gedanken. „Das ist alles eine Frage der Kondition“, belehrte er sie. Xelia wich einem weiteren Schlag aus und wurde nun ebenfalls von einem Luftstoß getroffen. Der Luftstoß, welchen Tiran wirken konnte, war viel stärker als ihrer, weshalb sie kurz die Kontrolle über ihren Körper verlor. Hilflos stürzte sie ab, bis sie es im letzten Moment schaffte, ihre Flügel wieder auszubreiten. „Ich hätte weniger Kraft in meinen Luftstoß stecken sollen“, sagte Tiran entschuldigend, doch Xelia ließ sich von seiner Stärke nicht aus der Ruhe bringen, im Gegenteil. Das Adrenalin stieg an, zusammen mit ihrer Kraft. Der Wind rauschte in ihren Ohren, und sie schlug kräftiger mit den Flügeln, als sie es jemals vorher zustande gebracht hatte. Der Luftstoß, welchen Xelia nun gegen Tiran wirkte, war stärker als je zuvor, und er hielt ihn seltsamerweise in luftiger Höhe fest. Der Greif schlug mit den Flügeln, um sich zu befreien, doch es funktionierte nicht. Sein eigener Luftstoß verpuffte, während Xelia ihren eigenen aufrecht erhielt. Sie gab dem Wind einen Befehl, und mit einem Ruck zog er Tiran in rasender Geschwindigkeit in Richtung Boden. „Hör auf, Xelia!“ Seine panische Gedankenstimme ließ sie zusammenzucken, und dann begriff sie, was los war. Ihr Luftstoß würde ihn so schnell zu Boden werfen, dass er dabei sterben würde. Sofort verlangsamte sie den Wind und seufzte erleichtert, als dieser ihren Freund langsam auf den Boden absetzte und verschwand. Eine leichte Erschöpfung übermannte sie, und sie landete neben ihm, bevor sie menschliche Gestalt annahm. Tiran lag reglos da, seinen Kopf zwischen die Flügel gestützt. Schuldgefühle überrollten Xelia, und sie kniete sich nieder. Entsetzt registrierte sie, dass sie die mentale Verbindung zu ihm nicht mehr spüren konnte, und Tränen traten ihr in die Augen. Xelia strich ihrem Freund über die Federn, und Angst machte sich in ihr breit, als sie bemerkte, dass er seine komplette Energie aufgebraucht hatte. Xelia tastete nach ihrer eigenen Kraft, sie war auch nicht mehr besonders stark, aber vorhanden, und plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Wenn Tiran noch länger ohne magische Kräfte war, würde er sterben, also verwandelte sie sich in ihre Greifenform und berührte ihn mit ihrem Flügel an der Schläfe. Sofort ließ sie etwas Kraft durch ihre Verbindung fließen. Auch, wenn sie seine Gedanken nicht mehr spüren konnte, hoffte sie inständig, dass dies ihn wieder heilen würde. Erleichterung überkam sie, als sie bemerkte, dass sich seine Brust wieder hob und senkte. Elariel kam stirnrunzelnd auf die beiden zugelaufen. „Das war Rettung in letzter Sekunde“, sagte sie, als Xelia wieder menschlich wurde. „Er wird eine Weile brauchen, um aus seinem Erholungsschlaf zu erwachen.“ Xelia nickte und fühlte sich noch immer schuldig. Sie wusste nun, dass sie gut auf ihre Kräfte achten musste. Sie wandte ihren Blick Tamiro zu, welcher in seiner Drachengestalt das Fliegen übte. „Das machst du gut!“, rief sie ihm zu, doch Tamiro war skeptisch. „Ich werde nicht stärker, aber du warst schon am zweiten Tag stärker als am Anfang.“ Xelia lächelte ihn aufmunternd an. „Drachen folgen wahrscheinlich anderen Regeln als Greifen, zu schade, dass es keine Drachen mehr gibt, die uns helfen können. Zumindest ist mir keiner bekannt.“ Tamiro nickte, dann landete er und verwandelte sich zurück. „Ich kann immer nur wenige Minuten in der Drachenform bleiben“, sagte er frustriert. „Wir werden schon einen Weg finden, wie du stärker werden kannst“, versuchte Xelia ihn zu beruhigen, doch er hob nur eine Augenbraue. „Pass lieber auf, dass du deine Windstöße unter Kontrolle bringst“, antwortete er“, und sofort bohrte sich ein Schuldgefühl wie die Klaue eines Greifen durch ihr Herz. Sofort senkte sie ihren Blick, damit Tamiro nicht sehen konnte, was in ihr vorging. „Es war keine Absicht“, sagte er sanft. Xelia seufzte, denn sie wusste, dass es zwecklos war, ihre Gedanken vor ihm zu verbergen, da sie durch die Auserwählung aneinander ebenso gebunden waren wie Tiran. Tamiros breites Grinsen verriet ihr, dass sie Recht hatte. „Ich habe Hunger. Lass uns zum Essen gehen.“ Xelia folgte dem Drachenwandler, doch bis auf ein kleines Stück Brot brachte sie nichts hinunter. Das schlechte Gewissen lastete noch immer auf ihr, und da sie nicht schlafen konnte, setzte sie sich zu ihrem noch immer schlafenden Gefährten, um ihn zu bewachen. Sofort erkannte sie, dass seine Kraft langsam aber sicher zurückkehrte. „Ob ich noch einmal nachhelfen soll?“, fragte sie sich, doch sie entschied sich dagegen. Plötzlich hörte sie leise Stimmen, welche sich entfernten. Es war die Stimme der Befehlshaberin und die eines Mannes, welchen sie nicht kannte. Entschlossen verwandelte sich Xelia in einen Greifen und hoffte, dass dadurch auch ihr Gehör geschärft sein würde. Bisher hatte sie nur auf ihre optische Wahrnehmung geachtet, da diese bei den Übungen auch am Wichtigsten schien. Nun waren die Stimmen lauter. „Wir können Xelia und die Anderen nicht weiter im Ungewissen lassen!“, rief der unbekannte Mann. „Es ist das Beste für sie, damit sie sich uneingeschränkt auf ihre Ausbildung konzentrieren können“, entgegnete Elariel. „Was nützt es verdammt noch einmal, wenn sie sich im Moment um ihre Ausbildung kümmern können, nur um dann unvorbereitet zu sein, wenn sich immer mehr Greifen und deren Reiter zu bösen, dämonischen Kreaturen verwandeln!“ Seine Stimme überschlug sich vor Zorn. „Ich werde es ihnen sagen, wenn die Zeit gekommen ist!“ Elariel betonte jedes Wort, um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen. „Wenn es zu spät ist?“, fragte der Unbekannte noch immer wütend. „Wenn du meine Entscheidung nicht respektierst, wirst du nicht länger mein engster Vertrauter sein!“, rief Elariel nun auch mit Wut in der Stimme. „Gut.“ Der Unbekannte rang mühsam um Fassung. „Wenn du willst, dass alle sterben und die Gilde der Greifenreiter nicht mehr als eine Legende ist, dann tu, was du für richtig hältst.“ „Zwinge mich nicht, dich wegen Ungehorsam zu bestrafen“, drohte die Elfe leise. Ihr Vertrauter holte tief und geräuschvoll luft. „Sag es bitte wenigstens Xelia“, flüsterte er. „Ich werde darüber nachdenken“, antwortete Elariel, dann entfernten sich Schritte in verschiedene Richtungen, und Xelia blieb mit vielen Fragen zurück.