Die Auserwählten der Engel, Kapitel 1: Die Entdeckung ihrer Verbindung
Samira stand nervös am Eingang ihres Heimatdorfes Algyrion und blickte vorsichtig über den Zaun. Sie trug eine Lederrüstung, und an einem Gürtel waren zwei lange Schwerter befestigt. Einer der Dorfwächter war ausgefallen, und so wurde es ihr, obwohl sie erst 15 Jahre alt war, erlaubt, den Ersatz zu bilden. Eine Mischung aus Freude und Angst stiegen in ihr auf. Sie freute sich, dass die Trainingsstunden mit ihrem besten Freund Xamir dazu geführt hatten, dass sie sich recht gut zu wehren wusste und dies endlich belohnt wurde, dennoch verspürte sie eine Angst vor dem ersten richtigen Kampf. Frauen durften im Normalfall nicht in den Krieg ziehen. Sie wurden erzogen, um Kinder auf die Welt zu bringen, den Haushalt zu führen oder als Kräuterfrau andere Menschen zu heilen. Nichts davon war eine Option für die stets sehr neugierige und kampfbegeisterte Samira. Diesmal hatten sich mit ihr sechs Krieger um das Tor des Dorfes versammelt, da ein Späher verdächtige Bewegungen bemerkt hatte. Vermutlich wieder einmal ein paar Barbaren, welche das Dorf ausrauben wollten. „Möchtest du nicht doch eine Rüstung aus Metall tragen?“ Die Stimme ihres Vaters riss Samira aus ihren Gedanken. „Nein, Vater. Ich habe diese bereits ausprobiert. Damit kann ich nicht so geschickt und wendig sein wie mit Lederrüstung.“ Ihr Vater seufzte noch einmal, wandte sich dann jedoch ab, als man laute Geräusche hörte. Es hörte sich an, als würde jemand sich mit trampelnden Schritten nähern. „Das sind mit Sicherheit keine Barbaren und auch keine Meuchler“, flüsterte Xamir. „Diese würden sich leise nähern.“ Kurz darauf erkannte Samira, was sich ihnen da näherte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Das Wesen konnte man am ehesten als untoten, verwesenden Haufen Knochen beschreiben, ein Skelett also. Es sah jedoch sehr muskulös aus, und in seinen knochigen Händen führte es eine riesige Axt. Samira faltete die Hände und betete, wie sie es oft tat. Sie wollte nichts als Frieden in diesem Dorf, doch bisher war es niemandem gelungen, die Räuber und Meuchler für immer zu vernichten. Nach dem Gebet zückte sie ihre beiden Langschwerter, und als das Wesen näher kam, machte sie einen Satz nach vorne, um ihm ihr Langschwert ins Herz zu rammen. Das Skelett machte ebenfalls einen großen Satz, und die tödliche Axt schlug im Kopf ihres Vaters ein. „Nein!“, schrie Samira, und die Wut stieg in ihr auf. Der nächste Axthieb spaltete Xamirs kopf. Eine Welle der Trauer schlug über Samira zusammen, doch sie nahm all ihren Mut zusammen und begann einen weiteren Angriff. Das Skelett beachtete sie jedoch nicht, sondern schlug mit der Axt auf die anderen Krieger ein. Samira musste zusehen, wie jeder Krieger nicht den Hauch einer Chance gegen die tödliche Waffe des Skeletts hatte. Schließlich stand sie alleine am Tor, und Tränen traten in ihre Augen. „Liebe Göttin, wenn es dich wirklich gibt, bitte hilf mir!“ Sie hatte von einer Göttin gehört, welche den Himmel bewohnte und angeblich auch bestimmte Menschen mit ihrer Magie segnete. Dies hielt Samira jedoch für ein Gerücht. Das Skelett kam nun langsam auf sie zugelaufen, als hätte es keine Eile. Samira machte einen Schritt zur Seite, ließ ihre Schwerter kreisen und wollte sie schließlich in den Kopf des Angreifers stoßen, doch dieser war zu flink für sie. Beinahe hätte er sie mit seiner Axt getroffen. Sie versuchte es wieder und wieder, doch keine ihrer Strategien half. Erschöpfung übermannte Samira, doch sie durfte jetzt nicht aufgeben. Schließlich atmete sie einmal tief durch und mobilisierte all ihre Kräfte. Da geschah etwas. Es begann mit einem Gefühl der Wärme, welches immer stärker wurde und sich in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Samira spürte, dass in ihr eine neue Kraft innewohnte, welche sie zwar nicht kannte, aber als rein und gut empfand. Sie konzentrierte sich auf die Schwerter in ihren Händen, und ein Teil dieser Magie ging darauf über. Das Skelett war nur noch einen Schritt weit entfernt, doch Samiras Schwerter begannen, fast von allein zu kämpfen. Sie sprang hoch und stieß ihre Schwerter mit voller Wucht in den Kopf des Angreifers. Das Skelett ließ daraufhin einen markerschütternden Schrei los, bevor es in seine Bestandteile zerfiel. Keuchend senkte Samira ihre Schwerter und befestigte sie wieder am Gürtel. Dann rannte sie zur Leiche ihres Vaters. „Es tut mir Leid, dass ich dich nicht beschützen konnte“, flüsterte sie leise, und Tränen traten ihr erneut in die Augen. Plötzlich sah sie etwas am Himmel, und als sie es genauer betrachtete, erkannte sie einen Engel mit goldenen Schwingen, welcher sich rasch näherte. Samira traute ihren Augen nicht, als das Lichtwesen neben ihr landete. „Ich bin es, Xamir“, erklärte der Engel. „Aurora, die Göttin, hat mich aufgenommen und mich die Prüfung der Engel machen lassen. Ich habe bestanden, und nun darf ich zurück auf die Erde, um dich auszuwählen. Du bist eine Auserwählte des Himmels und damit eine Gesegnete der Göttin, Samira.“ Samira wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. „Danke, dass du zu mir gekommen bist“, sagte sie schließlich, und Xamir lächelte. „Was ist mit meinem Vater? Ich konnte mich nicht verabschieden.“ „Dein Vater ist ebenfalls von Aurora aufgenommen worden. Er möchte wiedergeboren werden, wartet jedoch darauf, mit dir noch einmal zu sprechen.“ „Wie soll das gehen?“, fragte Samira. „Nun, du hast scheinbar die Fähigkeit, geistig mit dem Himmel zu kommunizieren und Himmelsportale zu schaffen. Aurora hatte das bemerkt, als du den Hilferuf zum Himmel gesandt hast. Versuche, ob du auch ein Portal schaffen kannst.“ Samira nickte aufgeregt. Sie konzentrierte sich auf ihre neue Kraft. „Ich möchte ins Reich der Göttin, zu meinem Vater“, dachte sie, und auf einmal wurde ein weißes Portal sichtbar. Zaghaft betrat Samira das Portal und fand sich auf einer grünen Wiese wieder. Ihre Füße trugen sie von alleine in die Richtung, in welche sie wollte. Sie lief an Menschen vorbei, welche auf einer Bank saßen und sich unterhielten, sah Kinder beim Spielen und gelangte schließlich zu einer weißen Quelle. Dort stand ihr Vater und betrachtete das Wasser. „Hallo, Samira!“, rief er, als er sie erblickte. Sie umarmte ihn weinend. „Du musst nicht weinen, Samira. Du hast eine Gabe, welche nur wenige Menschen auf dieser Welt besitzen. Du bist eine Gesegnete. Aurora hat mir gesagt, dass du kommen würdest und angeboten, die Engelsprüfungen zu durchlaufen. Ich wollte dies aber nicht. Ich wollte ein Mensch bleiben und mich von dir noch verabschieden, bevor ich aus diesem Wasser trinke und meine Seele neu geboren wird.“ „Warum möchtest du kein Engel werden?“, fragte Samira. Ihr Vater seufzte. „Meine Welt ist die Erde. Mein Ziel war, als Mensch auf der Erde ein guter Krieger zu sein. Außerdem habe ich hier keine Familie, auch wenn die Menschen hier friedlich miteinander leben. Nein, Samira. Ich muss das Leben hinter mich lassen und eine neue Bestimmung für mich finden, ohne Erinnerungen an alte Tage.“ Für einen Moment sprach niemand ein Wort, bevor Samira weitersprach. „Du wirst mir fehlen“, flüsterte sie, und ihr Vater lächelte sie traurig an. „Leider kann ich dies nicht behaupten, da meine Erinnerungen bald weg sein werden. Natürlich bin ich traurig darüber, dass wir einander nicht wiedersehen werden. Aber denk immer an meine letzten Worte. Sei ein mutiger, tödlicher Krieger, aber vergiss dabei nie deinen Verstand und deine Güte. Nicht nur Waffenfertigkeiten sind für den Kampf nötig, auch Verstand und Güte, um zu entscheiden, ob jemand dein Feind ist oder nicht.“ Er umarmte Samira noch einmal, dann trat ein sehr entschlossener Ausdruck in seine Züge. Schnellen Schrittes ging er zum Wasser, beugte sich hinab und trank einen großen Schluck. Sofort begann sein Körper weiß aufzuleuchten und verschwand. Übrig blieb ein weißes Licht, welches vom Wind weggetragen wurde. Für einen Moment stand Samira wie gelähmt da, doch dann teleportierte sie sich auf die Erde zurück.