Kapitel 2: Im Wald der Göttin
Als Samira durch das Portal getreten war, sah sie sich verwundert um. Sie war nicht wieder in ihrem Dorf, sondern nun in einem tiefen Wald. „Dieser Wald wird Wald der Göttin genannt“, erklärte ihr Engelsfreund. „Das Portal hat dich dorthin geführt, wo du hingehörst.“ Samira sah sich staunend in diesem Wald um. Ein paar Schritte weit weg erkannte sie eine Lichtung. Ein großer Altar dominierte die Lichtung, und daneben stand die lebensgroße Statue einer Frau, welche einen Stab in ihren Händen hielt und ihre wachen Augen prüfend über den Himmel gleiten ließ. Das musste die Göttin Aurora sein. Vor dem Altar knieten viele Menschen in einem Kreis und hielten einander die Hände. „Möge Auroras Kraft uns für alle Zeit beistehen“, hörte Samira sie rufen. „Warten wir einen Moment“, riet Xamir ihr. „In einer Meditation sollte man die Gesegneten lieber nicht stören. Samira wartete geduldig und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Nach wenigen Minuten ließen die Gesegneten einander wieder los, und zaghaft trat Samira einen Schritt näher. Alle Blicke wandten sich ihr zu. „Eine neue Gesegnete?“, fragte eine Frau erstaunt. Ein junger Mann in ihrer Nähe zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts gespürt, aber wahrscheinlich liegt das daran, dass ihre Kräfte noch ziemlich frisch sind. Das kann ich nun spüren.“ Die ältere Frau gab Samira mit einer Geste zu verstehen, näher zu kommen. Sie trug eine weiße, den ganzen Körper umhüllende Robe mit goldenen Mustern. Etwas nervös näherte sich Samira in Begleitung ihres Engels weiter. „Kein Zweifel, du bist auch eine Gesegnete“, stellte die Frau mit Blick auf ihren Engel fest. „Mein Name ist Thea, ich bin die ehrwürdige Priesterin dieses Ordens, was bedeutet, dass ich ihn leite. Wie ist dein Name, Gesegnete?“ „Samira“, antwortete sie. „Hallo Samira“, sprachen alle nun wie aus einem Munde. „Kannst du uns erzählen, wie du deine Kraft entdeckt hast?“, fragte Thea. Samira holte tief Luft, denn die Erinnerungen noch einmal zu durchleben war nicht leicht für sie. „Ich stand als Wächterin vor den Toren meines Dorfes, da ein Späher Feinde vermutet hatte. Als der Feind kam, waren wir alle geschockt, denn es handelte sich dabei um ein untotes Skelett, welches mit seiner Axt mühelos alle Krieger töten konnte, auch meinen Vater.“ Sie hielt kurz inne, als sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Sie räusperte kurz, um diesen Kloß zu vertreiben, bevor sie weitersprach. „Als ich alleine gegen das Skelett kämpfen musste, habe ich ein Gebet zur Göttin ausgesendet. Ich habe alle Kräfte mobilisiert, und plötzlich spürte ich die Wärme in mir aufsteigen, welche sich in mir ausbreitete. Ich übertrug einen Teil der Kraft in meine Schwerter und tötete das Skelett.“ Die Augen der Priesterin weiteten sich für einen Moment vor Entsetzen, zumindest meinte Samira, dies gesehen zu haben, doch dann war dieser Ausdruck wieder verschwunden. Ob sie sich dies nur eingebildet hatte? „Zum Glück konnte ich mich von meinem Vater noch verabschieden. Ich erschuf ein Himmelsportal und…“ „Was? Du hast ein Himmelsportal geschaffen!“ Theas Stimme klang aufgeregt. Samira nickte. „Ich habe ihn getroffen, bevor er aus der Quelle der Wiedergeburt getrunken hat. Wisst ihr, als welches Wesen er wiedergeboren wird?“ Thea schüttelte den Kopf. „Das weiß nur die Magie, die der Quelle innewohnt. Und nun tritt in unsere Mitte.“ Erst jetzt bemerkte Samira, dass auch Jungen und Mädchen in ihrem Alter anwesend waren. „Dies sind die Novizen, so nennen wir die Auszubildenden unseres Ordens. Bei jedem Gesegneten entfaltet sich die Magie zu unterschiedlicher Zeit, aber wir wissen, dass es immer zwischen dem 15. und 18. Geburtstag stattfindet. Du bist also noch sehr jung, aber nicht alleine.“ Sie deutete mit einer Hand auf ein Mädchen neben ihr, welches ziemlich schüchtern aussah. Zaghaft griff sie nach Samiras Hand. „Das ist Lynn“, erklärte die Priesterin noch, dann begann sie zu beten. „Lasst uns Samira willkommen heißen, eine neue Gesegnete, die die Magie des Lichtes in sich entdeckt hat.“ „Wir heißen Samira, unsere neue Ordensschwester, herzlich willkommen. Möge ihr Aurora stets den rechten Weg zeigen und ihr Leben beschützen!“ Nun kamen auch eine Menge Engel dazu und formierten sich ebenfalls in einem Kreis um Xamir. Weißes Licht strömte aus ihren Händen, dies war wohl die Art und Weise, wie Engel einen neuen Engel in ihrer Mitte willkommen hießen. Nach einem Moment der Stille wurde das Gebet beendet, und Thea wandte sich an Samira. Lynn wird dich in das Haus bringen, wo ihr untergebracht seid. Ihr beide werdet ein Zimmer bewohnen.“ Samira nickte und folgte dem schüchternen Mädchen. Es gab viele Häuser, doch sie waren beschrieben. Es gab ein Novizenquartier, eine Ordensschule, eine Bibliothek, eine Kampfarena und noch viele Häuser, welche den Ordensdienern, also den bereits Ausgebildeten gehörten. Das Novizenquartier hatte vier Zimmer, und Lynn steuerte auf eines davon zu. Es war großzügig eingerichtet, enthielt zwei Betten und ebensoviele Schränke. Außerdem zwei kleine Schreibtische, an welchen die Novizen lernen und ihr Arbeitsmaterial in Schubladen verstauen konnten. Eine kleine Tür führte in ein Badezimmer. Lynn wies auf einen der Schreibtische, auf welchem ein Lageplan sowie die Grundgesetze des Ordens lagen. Genaugenommen waren es nur drei Grundgesetze. Das Wichtigste war, einander Respekt zu zollen und auf die Befehle der höherrangigen Gesegneten zu hören. Die zweite Regel bestand darin, keinem Wesen ohne Grund Schaden zuzufügen, es sei denn, man befand sich in einem Angriff. Die letzte Regel lautete, das Ordensgelände nur mit Erlaubnis und sein Zimmer Nachts nicht zu verlassen. Darunter standen einige Konsequenzen, wenn sich nicht an diese Regeln gehalten wurde. Es begann bei Arbeitsstrafen, ging weiter mit einer meditativen Auszeit alleine, in welcher man Gebete auswendig lernen musste, bis hin zur Rückstufung um ein Jahr oder zeitweisen oder vollständigen Verbannung aus dem Orden. Im schlimmsten Fall, wenn ein Gesegneter einen Kameraden tötete, wurde er dafür ebenfalls vernichtet. Samira legte die Blätter beiseite und sah aus dem Fenster. Es war etwa Mittags, vermutete sie. Da hörte sie eine laute Glocke. „Das ist die Mittagsglocke“, erklärte Lynn leise. „Wir müssen uns zum Gebet und anschließenden Mittagessen versammeln.“ Samira nickte und folgte Lynn hinaus auf den Flur und dem Haus. Sie steuerte auf ein Haus zu, auf welchem „Räume der allgemeinen Benutzung“ zu lesen war. Samira folgte ihr bis zu einer Tür. „Dahinter befindet sich das Refektorium“, sagte Lynn. Sie öffnete langsam die Tür, und die Mädchen traten ein. Der Speisesaal war ziemlich groß und beherbergte viele Tische. Lynn wies auf einen kleinen Tisch, wo sich schon ein paar Jungen und Mädchen hinter ihre Stühle gestellt und die Hände gefaltet hatten. Samira zählte diese und kam auf zwei Mädchen und vier Jungen. Sie stellte sich vor den letzten freien Platz und faltete ebenfalls die Hände. Thea betrat den Raum und stellte sich an die vorderste Reihe der Tische. „Wir beten heute für das, was eines der wichtigsten Dinge in unserem Leben ist. Wir danken dir für die Gaben der Natur. Möge uns die Nahrung niemals ausgehen!“ „Möge uns die Nahrung niemals ausgehen“, erwiderten alle im Chor. Nach kurzer Zeit setzte sich Thea an ihren Platz, dann die anderen an ihrem Tisch. Samira wollte sich ebenfalls gerade niederlassen, doch Lynn hielt sie fest. „Jeder Tisch lässt sich nach der Reihe nieder“, flüsterte sie. Tisch für Tisch nahmen die Gesegneten Platz, bis die Novizen an der Reihe waren. Sofort kamen Diener und trugen dampfende Schüsseln auf. Sie verneigten sich kurz vor jedem Tisch, bevor sie verschwanden. Als alle ihr Essen hatten, nahm Samira ihren Löffel und tauchte ihn langsam in die Brühe. „Gemüsesuppe mit Kräutern“, stellte Lynn fest, und Samira genoss die warme Flüssigkeit in ihrem Mund. Nach der Suppe wurde ein herrlicher Braten serviert, welchen ebenfalls alle genossen. „Nach dem Essen ist eine Meditationsruhe im Wald“, erklärte Lynn. „Jeder darf sich einen Platz suchen, an welchem er meditieren und sich ausruhen möchte. Wollen wir… das zusammen tun?“ Ihre Stimme war kaum hörbar, doch Samira nickte nur lächelnd. Sie suchten sich eine Stelle zwischen hohen Bäumen und ließen sich ins Gras fallen. Samira schloss die Augen und nahm den Wald mit ihren verbleibenden Sinnen genau wahr. Sie vernahm das Zwitschern der Vögel und den Wind, sie spürte die Wiese unter ihr und roch den herrlichen Waldduft. Bald drifteten ihre Gedanken in weite Ferne, als sie der Schlaf übermannte.