Kapitel 4: Der ehrwürdige Kampfmagier
Eine laute Glocke riss Samira aus ihren Träumen. Da sie schon immer eine Frühaufsteherin war, war sie im Gegensatz zu ihrer Zimmergenossin hellwach. Gestern Abend wurden sie bei Sonnenuntergang, dies war in diesem Wald Punkt 21 Uhr, zu Bett geschickt, und Samira war kurz darauf eingeschlafen. Jetzt war es fünf Uhr morgens, wo die Sonne ihre ersten Strahlen am Himmel erscheinen ließ. Lynn gähnte einige Male herzhaft, stand dann aber auch auf und zog ihre Robe an, welche sie gestern erhalten hatten. Die Roben der Novizen waren im Gegensatz zu denen der anderen Gesegneten nur weiß ohne Musterung. „Unsere erste Stunde wird magisches Kampftraining mit Antonius, dem ehrwürdigen Kampfmagier sein“, erklärte Lynn. „Ehrwürdiger Kampfmagier?“ Lynn grinste. „Ja, so nennt er sich, und alle haben das akzeptiert. Er legt sehr viel Wert auf Titel.“ Samira nickte, und sie hatte bereits jetzt den Verdacht, dass dieser Lehrer ihr nicht besonders sympathisch sein würde. Sie schob die Gedanken beiseite, denn es kam nicht auf Sympathie an. Sie wollte ihre Magie trainieren, das zählte. Nach dem Frühstück gingen sie wieder in die Kampfarena, jedoch in den hinteren Teil, wo eine riesige Kuppel aus Licht schwebte. Ein Mann betrat den Raum, und Samira konnte nur noch über sein Aussehen staunen. Seine Robe war ebenfalls weiß, doch goldene Stickereien in Form von Zauberstäben wurden eingearbeitet. Der Kampfmagier räusperte sich, und Samira wandte ihren Blick von ihm ab. Dabei merkte sie, dass der Rest der Klasse ihre Hände gefaltet, den Kopf gesenkt und sich auf die Knie niedergelassen hatten. Hastig vollführte auch Samira diese Geste des Respekts. „Da du noch neu bist, werde ich dich diesmal für dein respektloses Verhalten nicht tadeln“, erklärte Antonius, bevor er sich an die Allgemeinheit wandte. „Liebe Klasse, ich werde euch etwas vorführen, bevor ihr wieder gegeneinander mit Magie kämpfen müsst.“ Er hob beide Arme und richtete sie gen Himmel. Im Raum war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Plötzlich manifestierte sich etwas in den Händen des Magiers. Ein riesiges Etwas aus purer Lebensenergie stand nun neben ihm und schien ihn zu beschützen. Als er einige Schritte ging, folgte es ihm. „Dies ist ein Elementar, komplett aus der Lebensenergie. Nur wenige Magier schaffen es, solch ein Werk zu schaffen.“ Seine Augen leuchteten voller Stolz, und er musterte die Novizen. Jeder von ihnen bewunderte das Wesen. Solchermaßen zufriedengestellt, ließ der ehrwürdige Magier das Elementarwesen wieder verschwinden. Dann blieb sein Blick an Samira hängen. „Samira, du wirst heute gegen mich kämpfen“, entschied er. „Ich muss wissen, wie gut du darin bist. Hast du deine Magie schon einmal gezielt auf einen Gegner geworfen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe sie nur in meine Langschwerter übertragen.“ Der Magier nickte, und kurz darauf erschien ein schützender Schild um ihn. „Fehlgeleitete Magie wird von der Barriere abgeblockt. Du musst dir also keine Sorgen machen, mich zu verletzen.“ Samira zögerte nicht, sondern konzentrierte sich auf die Wärme in ihrem Körper. Ihre Hand begann zu kribbeln, als ein kleiner Pfeil aus Licht sichtbar wurde, und sie warf ihn gegen den Schild des Magiers. Der Schild hielt den Angriff mit Leichtigkeit auf. „Halte deine Magie nicht zurück!“, rief Antonius, und Samira gehorchte. Sie erschuf einen großen Ball aus Licht und warf diesen mit aller Kraft. Wieder wurde der Angriff vom Schild abgehalten, doch diesmal zitterte dieser. Für einen Moment legte sich ein überraschter Ausdruck auf die Züge des Kampfmagiers, doch er gab ihr dennoch den Befehl, noch mehr Magie zu benutzen. Diesmal formte Samira einen riesigen Ring aus Licht, mit welchem sie Antonius von allen Seiten umschloss. Der Schild des Magiers begann nun heftig zu zittern und löste sich schnell auf. Zum Glück absorbierte die Kuppel die Magie und ließ sie verpuffen. „Deine Magie ist sehr stark“, stellte Antonius nach einer Schrecksekunde fest, bevor er Samira entließ. Sie sah zu, wie die Novizen gegeneinander kämpften, bis nur noch Lynn übrig war. Gerade wollte sie vorschlagen, sich noch einmal als Gegnerin anzubieten, als Antonius Lynn zu sich rief. „Lynn, du kämpfst heute noch einmal gegen mich, und ich möchte eine Lichtkugel sehen, nicht nur ein paar Funken!“ Lynns Hände begannen zu zittern, dennoch gehorchte sie und griff an. Diesmal brachte sie sogar eine winzige Lichtkugel zustande, doch der Schild zitterte nicht einmal. „Das ist zwar ein Fortschritt zu vorgestern, aber deine Leistung ist dennoch bestenfalls mangelhaft.“ Samiras neue Freundin verließ mit gesenktem Kopf die Arena, sobald die Glocke geläutet hatte, und Samira folgte ihr. „Die nächste Stunde ist Sport“, erklärte Lynn. Sie gingen auf eine kleine Lichtung, wo schon ein freundlicher junger Mann wartete. Er begrüßte Samira mit einem Lächeln. „Mein Name ist David, ich bin euer Sportlehrer. Du fragst dich vielleicht, warum wir hier Sport unterrichten, aber das ist ganz einfach. Nur wer Ausdauer hat, kann lange kämpfen, und Ausdauer trainiert man am besten durch Sport.“ Samira nickte. „Ihr lauft jetzt alle zehn Runden durch den Wald!“, rief der Lehrer. Samira und Lynn rannten sofort los, und Samiras Herz hüpfte vor Freude. Sie hatte schon immer einen ziemlichen Bewegungsdrang gehabt, jetzt durfte sie diesen auch ausleben. Auch Lynn freute sich über die Bewegung, und so liefen sie schweigend ihre Runden. Nach zehn Runden waren sie jedoch ziemlich außer Atem und ließen sich auf dem Waldboden nieder. „Gut gemacht“, lobte David sie. Nach einer kurzen Pause, in welcher sich die Novizen stärken konnten, wurde die Geschicklichkeit durch einen Kletterparkur auf die Probe gestellt. Lynn und Samira schafften diesen ohne Probleme, doch bei den anderen Novizen gab es einige Zwischenfälle. Adina, die älteste und hochnäsigste Novizin, fiel von einem Hindernis und verletzte sich am Kopf. „Hochmut kommt vor dem Fall. Nie war dieses Sprichwort passender als jetzt“, flüsterte Samira Lynn zu, welche mit einem Grinsen antwortete. Nach der Sportstunde war eine halbe Stunde gemeinsames Meditieren auf dem Stundenplan. Dies war die Meditation, welche Samira gestern beobachtet hatte, als sie durch das Portal in den Wald gelangte. Danach gingen die Novizen in ihre Zimmer, um eine halbe Stunde auf den Beginn des Essens zu warten. Lynn warf sich seufzend auf ihr Bett und blickte sorgenvoll an die Decke. „Was ist los?“, fragte Samira ihre Freundin. „Ich weiß auch nicht. Im Kampf bin ich schlecht und genauso in der Magie. Ich frage mich langsam, wieso ich überhaupt eine Gesegnete bin.“ Samira setzte sich neben sie und legte ihr behutsam einen Arm auf die Schulter. „Du wirst das schaffen, und ich werde dir helfen.“ „Das würdest du wirklich tun?“, fragte Lynn, und Samira bestätigte dies noch einmal mit einem entschlossenen Nicken. Lynns Augen begannen zu leuchten, und die Sorgen waren wie weggeblasen. „Du bist meine erste gute Freundin“, sagte sie.