Kapitel 3: Das erste Kampftraining
Samira wurde durch eine Berührung an der Schulter geweckt. Sofort richtete sie sich kerzengerade auf und sah Lynn, welche ein entschuldigendes Lächeln aufsetzte. „Tut mir Leid, aber die Pause ist gleich vorbei“, flüsterte sie. Samira sah sich um und bemerkte, dass auch die anderen Novizen sich gerade erhoben. Schnell stand sie ebenfalls auf und folgte Lynns Blick zur Kampfarena, welche nicht weit entfernt war. „Wir haben nun Kampftraining“, stellte sie fest, und ihre Hände zitterten dabei kaum merklich. Samira hatte es gesehen und warf ihrer Kameradin ein aufmunterndes Lächeln zu. „Das werden wir schon schaffen“, sagte sie und folgte Lynn zur Arena. Als sie die ehrwürdige Priesterin erblickten, wurden alle still, und Lynns Gesicht wurde weiß wie die Wand. „Was ist los?“, fragte Samira flüsternd. „Normalerweise haben wir einen anderen Kampflehrer“, antwortete Lynn. „Dass die ehrwürdige Priesterin heute diesen Unterricht übernimmt, ist nicht gut. Man sagt, sie sei die beste Kämpferin hier.“ Lynns Augen waren vor Angst geweitet, doch Samira legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Beruhige dich“, sagte sie fast unhörbar. „Was ist mit unserem Lehrer?“, brach ein Junge das Schweigen. Samira grübelte nach seinem Namen, bis er ihr wieder einfiel. Er hieß Jannick und war 17 Jahre alt. Für einen kurzen Moment lag ein trauriger Ausdruck in Theas Augen, doch kurz darauf wurde ihr Ausdruck streng, und sie durchbohrte jeden mit ihren Blicken. „Euer Lehrer ist im Kampf gegen die Totenbeschwörer gefallen“, sagte sie düster. Alle Novizen wurden blass im Gesicht. „Und deshalb ist es umso wichtiger, dass ihr gute Krieger werdet. Wenn euch eure Kräfte ausgehen, müsst ihr zumindest mit Waffen weiterkämpfen können.“ Ihr Blick huschte zu Samira. „Du kämpfst heute gegen mich, ich muss testen, wie gut du mit Schwertern bist“, erklärte sie, und Samira stellte sich mit respektvollem Abstand hinter sie. Thea drückte ihr zwei Übungsschwerter in die Hand. „Greif an!“, rief sie, und Samira zögerte nicht. Sie vollführte einen Kreis, um ihre Gegnerin zu verwirren, dann griff sie von einer anderen Seite aus an. Doch Thea durchschaute ihr Vorhaben und parierte den Schlag mit ihren eigenen Schwertern. Samira versuchte es noch einmal, diesmal rannte sie mit Anlauf auf die Priesterin zu. Doch wieder wurde der Schlag abgeblockt. Nun begann auch Thea einen Angriff, doch Samira parierte diesen mit Leichtigkeit, bevor sie den nächsten Angriff vollführte. Nach wenigen Minuten stand ihr der Schweiß auf der Stirn, doch sie kämpfte tapfer weiter. Plötzlich tat die Priesterin etwas Unvorhergesehenes. Sie wich dem Angriff aus, statt ihn zu parieren und nutzte den Moment der Unachtsamkeit aus, um Samira ihr Übungsschwert gegen die Brust zu halten. „Eines muss man dir lassen, du kämpfst gut und geschickt. Du musst aber trainieren, die Aufmerksamkeit niemals von deinem Gegner zu lenken, ganz egal, was er auch tut. Wäre das ein echter Kampf, wärest du nun tot gewesen.“ Samira nickte nur und übergab die Übungsschwerter, bevor sie sich auf eine Bank setzte. „Jannick und Lynn, ihr seid an der Reihe!“, rief die Priesterin, und Jannick vollführte ohne Vorwarnung einen Angriff. Lynns Hände zitterten, als sie die beiden Schwerter führte, um den Schlag zu parieren. Beim ersten Mal schaffte sie dies auch, doch dann wurde sie von einem Schwerthieb mit voller Wucht getroffen, sodass sie rücklings auf die Matte fiel. Samira konnte die Scham in ihrem Gesicht lesen, als Lynn sich aufrichtete und einen tadelnden Blick der ehrwürdigen Priesterin kassierte. „Du bist zu zögerlich, Lynn. Du musst schneller und selbstsicherer werden!“ Mit hochrotem Kopf setzte sich Lynn neben Samira und Jannick mit einem Grinsen ein Stück weit weg. Samira sah den weiteren Kämpfen zu, bis Thea wieder zu sprechen begann. Ihr Blick fiel dabei auf Samira. „Samira, würdest du noch einmal kämpfen? Tamino hat noch keinen Partner.“ Samira ließ sich das nicht zweimal sagen, holte sich die Übungsschwerter und stand nun einem Riesen von einem Jungen gegenüber, welcher sie mit purer Berechnung in seinem Blick ansah. „Eingebildeter Gockel“, dachte sie im Stillen und konzentrierte all ihre Sinne auf diesen Kampf. Sie wollte ihn um nichts in dieser Welt gewinnen lassen, also wartete sie nicht lange mit ihrem ersten Angriff. Der Schlag wurde von dem Jungen pariert, und er ging zum Gegenangriff über. Samira hatte ihn schon bei seinem ersten Schlag durchschaut. Seine Angriffe waren kraftvoll, ja, aber er verfügte weder über genug Schnelligkeit noch Geschick, um sie zu erledigen. Dies nutzte Samira aus, machte einen riesigen Satz nach vorne und sprang hoch. Bevor Tamino reagieren konnte, berührte sie ihn mit ihren Schwertern am Kopf. „Sehr gut, Samira!“, rief die Priesterin, bevor sie sich an ihren Gegner wandte. „Tamino, du brauchst mehr Gefühl und Geschick im Kampf. Stärke alleine wird dir nichts nützen.“ Für einen Moment blieb der Junge stehen und funkelte Samira an, bevor er die Schwerter abgab und sich auf die Bank begab. Als der Unterricht vorbei war, strömten alle aus der Arena. Samira wollte sich Lynn anschließen, doch dann wurde sie von einer Geste zurückgehalten. „Bleib bitte noch einen Moment, Samira“, befahl die ehrwürdige Priesterin. Samira warf Lynn ein Lächeln zu, und diese entfernte sich. Als niemand mehr zu hören war, seufzte die Priesterin laut auf. „Ich habe eine Bitte an dich, Samira. Bitte schaffe noch einmal ein Portal in den Himmel. Ich muss wissen, ob Gregor, der eigentliche Kampflehrer, dort ist, oder ob die Totenbeschwörer seine Seele vernichtet haben.“ Ihre Stimme klang verzweifelt, doch dann räusperte sie sich heftig, um wieder Fassung zu gewinnen. „Wenn es möglich ist, nimm mich mit durch das Portal.“ Samira nickte und streckte ihre Hände aus. Sie konzentrierte sich auf diesen einzigen Gedanken, und das Portal erschien. Schnell nahm sie die Hände der Priesterin, und die beiden durchschritten das Portal. Sie gingen über die selbe grüne Wiese, welche Samira schon einmal gesehen hatte, bis sie ein kleines Häuschen sahen. Auf der Bank vor dem Haus saß ein Mann und spielte mit einem kleinen Hundewelpen. „Gregor!“, rief Thea, und der Mann drehte sich um. In seinen Zügen sah Samira blankes Entsetzen, als er Thea musterte. „Was ist passiert, bist du… Nein, du bist nicht tot, das spüre ich genau. Aber wie kommst du hier her?“ Thea lächelte ihn an und deutete mit einer Geste auf Samira. „Samira hat die Fähigkeit, Portale in den Himmel zu schaffen“, erklärte sie. Ein erleichtertes Seufzen wurde hörbar. „Ich bin so froh, dass du da bist“, sagte Thea mit tränenerstickter Stimme. „Ich auch, wobei ich gewollt hätte, dass dies lebend für mich ausgeht.“ Er lächelte kurz. „Zum Glück haben die Bastarde meine Seele nicht bekommen.“ Samira trat einen Schritt zurück, als die Priesterin und Gregor sich umarmten. „Was hast du nun vor?“, fragte die Priesterin. „Ich werde als Mensch hier leben. Ich war und bin einer der besten Strategen und werde der Göttin mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das ist meine Bestimmung, egal ob auf der Erde oder hier im Himmel.“ Seine Stimme klang fest entschlossen. „Ich hoffe, du kommst mich noch einmal besuchen“, fügte er etwas leiser hinzu. Thea hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten, doch das musste sie auch nicht. „Es tut mir Leid“, sagte Samira leise. Thea begegnete ihrem Blick mit einem kleinen Lächeln. „Ich danke dir für das Portal“, flüsterte sie. „Wir müssen langsam wieder auf die Erde.“ Sie winkte Gregor noch einmal zu, dann streckte Samira wieder ihre Hände nach vorne und erschuf das zweite Portal. Sie landeten wieder im Wald vor der Kampfarena, und die Priesterin brachte Samira zum nächsten Unterricht. Wenn sie ihren Stundenplan richtig verinnerlicht hatte, müsste es nun Geschichte sein. Thea warf Samira noch einen letzten, dankbaren Blick zu, bevor sie das Klassenzimmer betraten und Samira sich neben Lynn setzte. Auf ihrem Tisch lag ein dickes, vergilbtes Geschichtsbuch. Eine Junge frau richtete ihren Blick auf sie. „Du hast die ersten fünf Minuten verpasst“, stellte sie ohne Tadel fest. „Ich habe allen aufgetragen, die ersten zehn Seiten des Buches zu lesen. Stell mir Fragen, wenn du etwas wissen möchtest.“ Samira nickte und beugte sich nun über das Buch. Auf den ersten Seiten stand die Geschichte der Göttin Aurora geschrieben. Sie war einmal ein Mensch, bevor sie gestorben war und von den Mächten des Himmels als Göttin ausgewählt wurde. Sie war nun für den Himmel und die Erde verantwortlich und erschuf sie innerhalb einer Nacht mit ihrem Stab. Samira las fasziniert weiter, bis das Läuten der Glocke den Schluss der Unterrichtsstunde ankündigte. „In zwei Tagen schreiben wir einen Test über die ersten zehn Seiten“, sagte die Lehrerin. „Sehr wohl, Gelehrte Gloria“, antworteten die Novizen. Samira packte ihr Buch in den Rucksack, dann folgte sie Lynn ins Novizenquartier. „Jetzt haben wir eine Stunde Zeit zu lernen oder uns auszuruhen, bevor die abendliche Meditation und danach das Abendessen stattfindet“, erklärte Lynn, und Samira ließ sich auf ihr Bett sinken. Zum ersten Mal seit zwei Stunden fragte sie sich, wo ihr Engel Xamir war und ließ ihren Blick durch den Wald schweifen. Da sah sie ihn, weit oben, direkt bei der Sonne. „Wir Engel müssen unsere Kräfte auch aufladen“, erklärte er, und Samira lächelte ihm zu, bevor sie ihren Blick erneut ins Geschichtsbuch warf.