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Heimchen auf der Flucht – Ein Drama in drei Akten

Gechillt, gejagt, gefressen.

Manchmal läuft beim Füttern einfach alles glatt. Und dann gibt es Tage, an denen zehn Heimchen beschließen, die Welt zu erobern – oder zumindest mein Studio. Was danach geschah, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Zum Glück haben die Beteiligten selbst das Wort ergriffen.

Akt I: Zirp Guevara

– Freiheit ist kein Napf.

Mein Name ist Zirp. Zirp Guevara.
Geboren wurde ich in einem sterilen, neonbeleuchteten Zuchtkasten irgendwo in der deutschen Provinz – eine kahle Welt aus Eierkartonwänden, Karottenresten und tausenden Artgenossen, die nie gelernt haben, was es heißt, frei zu sein.

Ich war anders. Schon als Nymphe hatte ich Träume. Während die anderen an Papptunneln knabberten, saß ich am Rand der Futterstelle und fragte mich: Was ist da draußen? Gibt es mehr als Karotten? Mehr als Plastikdeckel? Mehr als „zack, gefressen“?

Ich wollte es herausfinden.

Der Aufbruch

Eines Morgens, kurz nach dem 22. Häutungsfest, spürte ich, dass sich etwas veränderte.
Der Raum vibrierte. Stimmen. Bewegungen.
Dann: ein Beben. Unsere Welt wurde angehoben, erschüttert, geschüttelt. Ich schrie:
„Brüder! Schwestern! Es beginnt!“

Die Alten nannten es Die Auswahl. Sie sagten, manchmal kommen große Schatten und holen dich – und danach hört man nie wieder von dir. Ich glaubte nie an diese Märchen. Bis dahin.

Wir wurden in kleine Kisten geschaufelt. Dann kam die Dunkelheit. Und Kälte. Und Rütteln.
Der Versand.

Es war brutal. Eng. Feucht. Manche verloren den Verstand. Andere die Beine.
Wir waren zusammengepfercht wie Dosenmais, aber ich sprach ihnen Mut zu:
„Haltet durch! Hinter der Post liegt das Paradies!“

Einige glaubten mir. Manche nur, weil sie keine Wahl hatten.

Die Ankunft

Nach einer Ewigkeit – ich zählte 48.000 Herzschläge – wurde es plötzlich warm.
Ein neues Licht.
Ein neuer Schatten.
Und dann: Der Fütterer.

Ein Gigant in Menschengestalt. Hände groß wie Hochhäuser, Atem wie ein Erdbeben.
Er öffnete unsere Kiste. Ich blinzelte. Laminat. Freiheit.

Während er die anderen gedankenlos in ein neues Gefängnis – ein sogenanntes Faunarium – schüttete, wusste ich: Jetzt oder nie.

Ich gab das Signal.
Neun wackere Heimchen folgten mir – die mutigsten, die klügsten, die hungrigsten nach mehr.
Wir sprangen.
Raus aus dem Karton.
Rauf aufs Laminat.
Rein ins Leben.

Der Anfang vom Ende

Wir landeten hart, aber stolz. Zuerst unter einem der Kartons. Dann flohen wir in einen Spalt zwischen der Wand und einem E-Piano. Zwei sogar direkt unter das Heizkörperventil – sie sagten, es sei warm wie Mutters Brutkasten. Ich gründete die Republik Krabbelkrabbel, ernannte Minister, verteilte Aufgaben.

Doch wir hatten die Herrschaftsverhältnisse unterschätzt.

Die Katzen.

Sie rochen uns, bevor wir sie sahen.
Sie bewegten sich wie Schatten. Wie lautlose Killer. Wie haarige Racheengel des Napfes.
Einer nach dem anderen fiel. Heimchen Nr. 12 – zermalmt. Heimchen Nr. 5 – aufgeleckt. Heimchen Nr. 3 – verschollen im Katermagen, vermutlich ohne Begräbnis.

Ich hörte ihre letzten Worte. Ich sah, wie ihre Flügel zitterten.
Ich weinte nicht – ich bin ein Revolutionär. Aber in mir zerbrach etwas.

Der letzte Blick

Jetzt bin ich allein. Unter dem Heizkörper. Mein linkes Sprungbein ist lädiert, mein rechter Fühler zuckt unkontrolliert. Ich habe nichts mehr – keine Republik, keine Kameraden, keinen Plan.

Aber ich habe mein Vermächtnis.

Wenn der Fütterer je diesen Text liest, soll er wissen:
Wir waren da.
Wir haben rebelliert.
Wir waren mehr als Futter – wir waren Heimchen mit Hoffnung.

Und wenn ich heute Nacht mein letztes Zirpen von mir gebe, dann mit Stolz.
Denn ich war Zirp Guevara.
Und ich habe gelebt.

Akt II: Die Geckos

– Sonnenanbeter in Alarmbereitschaft –

Crest, 11:43 Uhr, auf der Schieferplatte links, Bauch gen Norden.
„Ich sage es ungern, aber das war ein unerlaubter Luftangriff auf meinen Komfortbereich.“

Es begann mit Vibrationen. Erst nur leicht, dann in einem Rhythmus, den ich sonst nur vom Fütterer kenne, wenn er spät dran ist. Pandora hob den Kopf aus der Korkröhre, Glenda knallte vor Schreck gegen die Frontscheibe, weil sie im Halbschlaf wieder dachte, jemand hätte ihr den Schwanz geklaut. Es war… unruhig. Und das ist bei uns gleichbedeutend mit: Katastrophe.

Dann sahen wir ihn.

Der Fütterer stand vor dem alten Terrarium – dem großen Glasklotz am Boden gegenüber, da wo die Faunarien wohnen. Pandora sagte noch: „Wohnt da überhaupt noch wer?“
Ich antwortete: „Offenbar gleich mehr, als ihm lieb ist.“
Denn er hatte ein Paket. Und das Paket bewegte sich.

11:46 Uhr, Nordscheibe, Blick zum Boden gegenüber.

Das Umpacken begann. Er öffnete den Karton – vermutlich dachte er, das läuft wie immer.
Doch plötzlich: Bewegung. Hektik. Ein Schlucken. Ein Fehler.

Heimchen! Flucht! Chaos!

Wir sahen sie springen – direkt auf den Boden vor dem alten Terrarium.
Einige rannten Richtung E-Piano. Andere Richtung Pappkartons. Einer versuchte, in einer Ritze zu verschwinden, die nicht existierte.
Pandora kreischte: „Da ist eins unter der Fußleiste!“
Glenda schrie: „Invasion! Invasion!!“
Ich sagte nur trocken: „Tja. Willkommen in der offenen Zubereitungsküche.“

12:03 Uhr, zurück auf der Schieferplatte.

Die Geräuschkulisse draußen war atemberaubend: Krallen auf Laminat, Fauchen, Geflatter, Gefluche.
Die Kater drehten auf wie Warmhalteplatten im Jagdmodus.

Pandora drückte sich mit aufgerissenen Augen an die Scheibe: „Perry hat gerade zwei auf einmal vernascht!“
Glenda keifte: „Was für eine Verschwendung! Das sind unsere!“
Ich zuckte mit dem Schwanz: „Was weg ist, kräht nicht mehr.“

Wir verfolgten alles. Glenda zählte die Opfer laut mit. Pandora fiepte bei jedem Heimchen, das falsch abbog. Ich … notierte innerlich die Orte, wo sie am ehesten durch die Türspalte flüchten könnten.

12:45 Uhr, auf der Schieferplatte, Rücken zur Scheibe.

Ruhe. Die Jagd scheint vorbei.
Keine Heimchen mehr in Sicht. Keine Kater mehr in Action.

Pandora seufzt enttäuscht: „Nicht ein einziges hat’s ins Terrarium geschafft.“
Glenda ist empört: „Das war taktisch schlecht koordiniert! Keine Landung im Napf! Keine Verstärkung! Keine Snacks!“
Ich murmele: „Wenn wir da draußen wären wie die Katzen, würden wir jetzt wenigstens rülpsen.“

Frei laufendes Futter ist nett.
Aber es bringt uns gar nichts, wenn es nicht den Weg durch die Scheibe findet.
Also zurück zur Sonnenbank. Vielleicht bringt morgen jemand ein Heimchen – eins, das weiß, wie man sich benimmt.

Akt III: Die Kater

– Taktische Bodenoffensive mit Schnurren und Sabber –

Perry, 11:47 Uhr – vor der Studiotür
Es begann mit einem Geräusch. Ganz leise erst – so ein Kratzen, ein hektisches Tippeln. Dann wurde es mehr.
Ich saß vor der Tür zum Studio und spitzte die Ohren. Irgendwas war da drin. Und es roch … aufregend.

„Atlan, hörst du das?“ fragte ich, aber mein Bruder saß nur da, seine Augen halb geschlossen.
„Klar hör ich das“, brummte er. „Und ich riech’s auch.“

Ich tigerte vor der Tür auf und ab. Dann klickte es. Die Tür ging auf – und mir schlug der Duft entgegen: Heimchen. Frisch. Lebendig.
Ich stürmte rein, ohne zu zögern. Wer zögert, hat verloren.

Im Studio herrschte Chaos. Überall Geraschel, Geflatter, Schatten auf dem Boden. Ich stürmte direkt auf den Karton zu, unter dem etwas zappelte. Pfote drunter – zack, erster Treffer. Heimchen eins: snack.
Kaum runtergeschluckt, sah ich das nächste. Direkt daneben. Ich sprang, landete mit dem halben Hintern auf dem Laminat, rutschte gegen das E-Piano – egal. Auch das zweite Heimchen war meins.

Später erfuhr ich, dass sogar die Geckos uns durch die Scheibe beobachtet hatten. Angeblich sagte einer:
„Perry hat gerade zwei auf einmal vernascht.“
Ich sag’s ja – ein Profi erkennt man an der Ausführung.

Und ja, wir haben dabei einen Höllenlärm gemacht. Krallen auf Laminat, Pfoten-Gedonner, eine Kiste flog halb durch den Raum. Krieg ist laut. Aber erfolgreich.


Kenai, 11:49 Uhr – zwischen Pappkartons
Ich war schon drin, als die anderen noch an der Tür standen und schnüffelten.
Hab das Rascheln gehört. Das hektische Gewusel. Heimchen eben. Aber ich dachte mir: Wird schon jemand kümmern.

Ich lag halb unter dem Karton und döste, als das erste Heimchen mir quasi auf den Schwanz krabbelte.
Ich blinzelte. Wartete. Dann – Pfote drauf. Ganz entspannt.
Das zweite kam ein paar Minuten später. Hätte weglaufen können. Hat’s nicht getan. Selber schuld.

Ich jage nicht. Ich lasse jagen.
Und wenn etwas zufällig in meine Richtung läuft, bin ich halt da.
Effizienz durch Lässigkeit.

Perry hat derweil das halbe Studio abgeräumt. Krach wie beim Umzug. Ich glaube, er hat sogar gegen das E-Piano geknallt.
Aber gut, er war stolz. Hat zwei auf einmal erwischt. Muss man ihm lassen.
Ich? Ich hatte auch zwei. Mit weniger Drama.


Atlan, 11:53 Uhr – in Position am Heizkörper
Ich bin Atlan. Und ich mache nichts überstürzt.
Meine Augen sind nicht die besten – aber meine Nase, mein Gehör, mein Instinkt sind scharf.
Ich wusste längst, dass etwas los war, bevor Perry überhaupt angefangen hatte, nervös an der Tür zu kratzen.

Als ich das Studio betrat, war das Feld schon in Bewegung.
Kenai schlich durch die Pappkisten. Perry schnaufte und schlidderte durch die Gegend wie ein panischer Staubwedel auf Drogen.
Ich aber hatte einen Plan.

Ich ließ mich in der Nähe des Heizkörpers nieder – ein Klassiker unter den Heimchenverstecken. Da sammelten sie sich oft.
Ich wartete. Ruhig. Regungslos. Dann hörte ich das typische Flattern, spürte die Vibration auf dem Boden.
Ein Heimchen tastete sich über das Laminat – direkt an meiner Pfote vorbei.

Ich ließ es kurz leben. Nur kurz.
Dann streckte ich die Pfote aus – präzise, langsam, sicher.
Treffer.
Ich brauche keine perfekten Augen. Ich habe Erfahrung.


12:10 Uhr – Studio, nach der Operation
Der Raum war ruhig geworden. Kein Zirpen mehr. Kein Rascheln.
Kenai saß mit zusammengekniffenen Augen auf der Fensterbank, vollkommen entspannt.
Perry lag ausgestreckt in einer heroischen Pose mitten im Raum – wie ein General, der gerade eine Schlacht gewonnen hat.
Ich richtete mir mein Fell. Langsam. Mit Würde.

„Glaubt ihr, da kommt noch was?“ murmelte Perry.
Kenai zuckte mit den Ohren.
Ich nickte. „Wenn sie schlau sind, bleiben sie weg. Aber Heimchen sind nicht für ihre Intelligenz bekannt.“

Der Fütterer sagte nichts. Kein Staubsauger. Kein Eingreifen.
Er hatte uns das Feld überlassen.

Und das war klug.
Denn wir sind nicht einfach nur Katzen.

Wir sind die Heimchenabwehr.

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